Gegen Rebellen

Erdogan verbündet sich mit verhassten Social Media

Web
16.07.2016 14:31

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan gilt als großer Gegner von Twitter und anderen sozialen Netzwerken im Internet - bereits mehrere Male ließ er die Internetdienste zeitweilig sperren. Doch in der bisher größten Krisensituation seiner Amtszeit hat Erdogan nun selbst auf die Plattformen zurückgegriffen. Über Apples Videotelefonie-Dienst Facetime rief der Staatschef die Bevölkerung auf, sich gegen die Putschisten zu wehren und alle öffentlichen Plätze zu besetzen. Er zeigte zudem, dass er am Leben und kampfbereit ist.

Ungefähr drei Stunden nach Beginn des Putschversuchs in der Nacht auf Samstag, als Panzer in den Straßen standen, Kampfflugzeuge über Istanbul donnerten und Gerüchte umhergingen, Präsident Erdogan sei auf dem Weg nach London oder Berlin, tauchte er im Fernsehsender CNN Türk auf - auf dem Bildschirm eines Smartphones, das die Moderatorin in die Kamera hielt. Es war ein Schlüsselmoment in der Putschnacht. Neben dem Smartphone-Anruf verbreitete Erdogan auf Twitter seinen Appell.

Stärken soziale Medien nun Macht des Präsidenten?
Was für eine Ironie: Erst vor etwas mehr als zwei Jahren hatte Erdogan Twitter blockieren lassen, weil seine Gegner dort Korruptionsvorwürfe gegen ihn verbreiteten. Erst ein Gericht kippte die Sperren. Die Türkei führt weiterhin immer wieder weltweit bei den Behörden-Anfragen zur Twitter-Zensur. Jetzt könnten aber Technologie und soziale Medien eine entscheidende Rolle dafür gespielt haben, dass Erdogan an der Macht bleibt.

Über Facebook Live und Twitters Gegenstück Periscope gingen Bilder in die Welt, auf denen Panzer Autos in den Straßen rammten und Menschen furchtlos auf die Kampfmaschinen einprügelten. Die Smartphones geben jedem einen direkten Draht zum Rest der Welt. Das Handbuch des Putschisten, nach dem man Sender und Brücken besetzen muss, ist Makulatur: Jeder kann heute ein Fernsehsender sein.

Video: Putschende Soldaten ergeben sich.

Erster Putschversuch im Livestream
Ins Bild passte auch, dass CNN Türk auf eine Online-Übertragung über Facebooks Livestreaming-Funktion auswich, als nach der Erdogan-Übertragung Soldaten ins Studio kamen, um es zu besetzen. "Ich konnte zwei Facebook-Live-Videos übertragen, während ich vor Putschisten flüchtete", schrieb ein Journalist der Zeitung "Hürriyet", wo die Armee auch vor der Tür stand. Nachdem vor einigen Jahren die Umbrüche im Nahen Osten als Social-Media-Revolutionen in die Geschichte eingingen, weil dort Facebook und Twitter die Drehscheibe für die Protestbewegungen waren, gab es jetzt den ersten Putsch im Livestream.

Kristian Brakel, Leiter des Istanbuler Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, sieht in Erdogans Vorgehen keinen Widerspruch zu früheren Maßnahmen wie den Twitter-Verboten. "Das ist ja einfach eine gewisse Doppelzüngigkeit: Der Präsident erklärt, dass er kein Freund der sozialen Medien ist, aber seine eigene AKP nutzt natürlich die sozialen Medien - Twitter und Facebook, was in der Türkei sehr verbreitet ist - sehr, sehr aktiv." So führe die Partei über die sozialen Netzwerke Wahlkampf oder nutze sie, um Leute unter Kontrolle zu halten, die vielleicht unliebsame Sachen posten.

Putschversuch bestätigt Erdogans "Paranoia"
Der gescheiterte Putschversuch wird Erdogan nach Einschätzung Brakels stärken. Der Präsident sehe sich jetzt bestätigt in der "Paranoia", dass es Mächte im Staat gebe, die ihn und die Regierung stürzen wollten: "Das ist natürlich jetzt Wasser auf die Mühlen all seiner Anhänger, die das auch immer schon geglaubt haben." Zudem mache es für viele, die noch nicht so ganz überzeugt waren von dem geplanten Präsidialsystem samt Verfassungsänderung, glaubhafter, dass man einen starken Herrscher an der Spitze brauche.

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