Kunst des Weglassens

So kommen unsere Autos künftig ohne Lenksäule aus

Motor
22.01.2021 01:00

Béla Barényi, der geniale Sicherheits-Pionier, erfand die „Sicherheitslenkwelle für Kraftfahrzeuge“. Sein Arbeitgeber, die Daimler AG, ließ die Lenksäule, die bei einem Unfall nicht mehr ins Fahrzeuginnere eindringen kann, sondern abknickt, am 30. November 1963 patentieren. Geht es nach Ronald Arnold, dann wird die Lenksäule und damit die feste Verbindung zwischen Lenkrad und Lenkgetriebe demnächst ganz aus unseren Autos verschwinden.

(Bild: kmm)

„Steer by wire“ heißt das Zauberwort. Eine Technik, die Arnold und seine Firma Paravan für behindertengerecht umgebaute Fahrzeuge nutzen. Es ist damit auch machbar, Autos per Smartphone zu steuern, wie diesen Ferrari 458 Spider:

Diese Nischentechnik hat sich mittlerweile zur Schlüsseltechnologie entwickelt, wenn es ums autonome Fahren geht. Arnold und Paravan haben mittlerweile ein Joint Venture mit Schaeffler gegründet. Die Partner wollen die Technik so schnell wie möglich zur Serienreife entwickeln - und setzen sie deshalb im Rennsport ein.

Rennsport als Testfeld für die Lenkung der Zukunft
Arnold: „Wir möchten uns ein umfassendes Bild von der Leistungsfähigkeit sowie von der Robustheit des Systems machen. Dabei ist es unabdingbar, Fahrzeuge von verschiedenen Fabrikaten zum Einsatz zu bringen, die von unabhängigen Rennställen eingesetzt werden. Die Erkenntnisse aus den Rennen sowie die gewonnenen Daten fließen permanent in die Weiterentwicklung des Systems ein.“

2020 wurde die „Space drive“-Technik bei den Rennen zur GTC-Race-Serie in drei GT3-Autos eingebaut: einen Porsche 911 GT3 R, einen Audi R8 LMS GT3 und einen Mercedes AMG GT3. Namhafte Piloten waren am Start und sicherten der neuen Technologie nicht weniger als sechs Siege bei sechs Rennen. Timo Bernhard, Ex-Le Mans-Sieger und Eigner des Porsche-KÜS-Teams, griff selbst beim ersten Test ins „elektrische Lenkrad“ und befand: „Der erste Fahreindruck war besser als gedacht. Ich habe mir das weniger real vorgestellt.“

„Fast wie mit Lenksäule“
Bernd Schneider, fünffacher DTM-Meister: „Ich saß bereits im Frühjahr im Space-Drive-AMG. Es hat sich viel verändert. Der letzte Stand fühlt sich realistisch an, fast wie mit Lenksäule.“ Bernd Mayländer, Ex-DTM-Fahrer und Safety-Car-Pilot in der Formel 1: „Im Motorsport wird alles schneller und dynamischer entwickelt. Solche Innovationen braucht der Motorsport. Ich war fasziniert vom ersten Kilometer an. Nach den ersten zwei Kurven ist man im System drin, dann weiß man wie es sich anfühlt.“

Markus Winkelhock war mit drei Siegen im Audi 2020 bester Space-Drive-Pilot. Er hat das System bereits 2019 am Nürburgring gefahren: „Ich habe lange mit den Ingenieuren gesprochen. Sie haben mir von der dreifachen Sicherheit und der Extra-Stromversorgung erzählt. Und als sie mir dann noch sagten, dass das System in Serienautos bereits eine Milliarde Testkilometer ohne Unfall absolviert hat, da war ich überzeugt.“

„Man kann einfach präziser fahren“
Und welche Vorteile bringt „Steer by wire“ auf der Rennstrecke, wo hart über die Curbs gefahren wird, wo man ein gutes Feadback beim Einlenken braucht, wo ein Ausbrechen des Fahrzeugs mit blitzschnellen Lenkkorrekturen abgefangen werden muss? Mayländer: „Space-Drive hat Vorteile, wenn man über die Curbs fährt. Das Lenkrad liegt einfach ruhiger in der Hand. Man kann einfach präziser fahren.“ Schneider: „Als ich rausgefahren bin, da wusste ich nach einer halben Runde: Ich habe Vertrauen in das System.“ Bernhard: „Jetzt geht es darum die Feinheiten zu optimieren und dem Fahrer noch mehr Rückmeldung über das Lenkrad zu geben, vor allem beim Einlenken in die Kurve.“ Und auch Winkelhock meint: „Schon nach kurzer Zeit waren wir mit den Rundenzeiten auf Topniveau. Nun gilt es, Detailarbeit mit dem Force-Feedback-System zu machen.“

Lenkung im Detail einstellbar
Der Vorteil von Space-Drive: Über das sogenannte Force-Feedback-System lässt sich das System feinfühlig auf die Wünsche des Fahrers abstimmen. „Bei Langstreckenrennen kann man in Zukunft die Lenkung verstellen und so auf unterschiedliche Witterungsbedingungen reagieren“, blickt Winkelhock in die Zukunft. Er wünscht sich, dass das System für den Rennsport noch schneller wird. Speziell im Regen, wenn das Auto plötzlich ausbricht, „da ist es noch ausbaufähig“. Er könnte sich sogar vorstellen, dass man künftig über „Steer by wire“ die Spur an der Vorderachse verstellt und so die Reifentemperatur, wie in der Formel 1 bei Mercedes, beeinflussen kann. Auch Schneider schwärmt: „Steer by wire ist die Zukunft.“

Steer by wire wird mittlerweile nicht nur bei Sprintrennen, sondern auch bei den 24 Stunden am Nürburgring und im Rallye-Auto erprobt. Armin Schwarz, Ex-Rallye-Profi, ließ einen Ford Fiesta Rallye 2 mit der elektronischen Lenkung ausrüsten. Nach ersten Tests fuhr der ehemalige Rallye-Europameister den Fiesta bei der Lausitz Rallye als Vorausfahrzeug. Schwarz: „Bei Rallyes sind die Belastungen für Lenkung und Stellmotor härter als auf der Rundstrecke.“ Deshalb werden Software und Stellmotor den schärferen Anforderungen angepasst. Weitere Tests sollen in diesem Jahr folgen.

Sicherheitssystem wie im Flugzeug
Dabei nutzt man im Rennsport bislang nur einen Teil der Space-Drive-Möglichkeiten: Space Drive kann nicht nur elektronisch lenken, sondern auch Gas geben und bremsen. Das System bezieht seinen Strom zwar aus dem Bordnetz, als Backup dient aber eine weitere Batterie. Das Lenksignal wird dreifach redundant an drei Prozesseinheiten übertragen. Die arbeiten immer zeitgleich, unabhängig voneinander und überprüfen sich gegenseitig. Nach dem Prinzip der „zwei aus drei“- Entscheidung werden die Befehle umgesetzt. Dieses Prinzip ist aus der Luftfahrt abgeleitet, wo Redundanzen seit langem Standard sind. Im Ernstfall ist das System auch mit einem Prozessor noch betriebsbereit.

Mittlerweile sind weltweit 8500 Autos mit der neuen Technologie unterwegs. In den vergangenen 17 Jahren haben sie unfallfrei über einen Milliarde Kilometer zurückgelegt. „Space Drive ist das einzige System dieser Art, das eine weltweite Straßenzulassung hat“, erklärt Matthias Zink, der CEO Automotiv bei Schaeffler. Mehrere Hersteller arbeiten bereits mit Space Drive. Der Serienstart der neuen Technologie bald stattfinden.

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(Bild: kmm)



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