Gerade um Weihnachten verdichtet sich vieles, was Stress und innere Belastung verstärkt. Viele wirken nach außen stark und leistungsfähig, fühlen sich jedoch im Inneren überfordert. Psychologisch entscheidend ist, Wege zu finden, die Seele zu entlasten. Doch warum sind wir überhaupt permanent überlastet?
Psychiater Viktor Frankl, Schüler und Wegbegleiter von Sigmund Freud und Alfred Adler sowie Begründer der Logotherapie, sagte einmal: „Jede Zeit hat ihre Pathologie.“ Damit meinte er, dass jede Epoche spezifische psychische Belastungen und Herausforderungen mit sich bringt.
Heute leben wir in einer Zeit tiefer existenzieller Unsicherheit, geprägt von Einsamkeit, Dauerstress und Zukunftsängsten. Gerade in der Weihnachtszeit wird deutlich, wie sehr unsere moderne „Pathologie der Zeit“ wirkt. Aus psychologischer Sicht ist jetzt besonders wichtig, das Bewusstsein dafür zu schärfen: Viele Menschen fühlen sich überfordert, obwohl sie äußerlich „alles schaffen“.
„Wir leben aktuell in einer Phase tiefgreifender existenzieller Unsicherheit. In der Psychologie wird dieser Zustand zunehmend als prä-traumatische Belastung beschrieben – ein anhaltendes Gefühl, dass ,das nächste Krisenereignis‘ jederzeit eintreten könnte“, erklärt die Klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin und Psychotherapeutin Christa Schirl. „Dieses permanente Erwartungsstress-Muster ist kein einzelnes Phänomen, sondern das Ergebnis verschiedener gesellschaftlicher Entwicklungen, die auf unser Nervensystem einwirken.“ Doch worin liegen die Gründe?
1. Solastalgie – der Verlust einer vertrauten Zukunft
Der Philosoph Glenn Albrecht prägte den Begriff Solastalgie – eine Form ökologischer und existenzieller Trauer. Er beschreibt das Gefühl, wenn vertraute Umwelten sich verschlechtern oder verschwinden, während man noch in ihnen lebt.
Psychologisch bedeutet das: Menschen verlieren nicht nur Vergangenheit, sondern auch die Vorstellung einer stabilen, lebenswerten Zukunft. Ohne ein positives Zukunftsbild fehlt der Psyche ein innerer Kompass. Es entsteht ein diffuser Zukunftsschmerz – die Trauer um etwas, das man noch nicht verloren hat, dessen Verlust man aber kommen sieht.
2. Einsamkeit als unterschätzter Risikofaktor
„Einsamkeit gilt heute als einer der stärksten psychischen Belastungsverstärker“, so Mag. Christa Schirl. Dass Länder wie Japan oder Großbritannien eigene Ministerien für Einsamkeit eingerichtet haben, zeigt die gesellschaftliche Dimension. Neurobiologisch ist der Mensch ein Verbindungstier. Das soziale Nervensystem ist darauf ausgerichtet, Sicherheit über Nähe, Resonanz und Zugehörigkeit zu regulieren. („In der Mitte der Herde bin ich am sichersten!“)
Fehlt diese „Herde“, schaltet der Organismus in einen Zustand erhöhter Alarmbereitschaft - selbst ohne konkrete äußere Bedrohung.
Chronische Einsamkeit wirkt daher wie ein kontinuierlicher Stressor, der Cortisolspiegel erhöht und die psychische Widerstandskraft nachhaltig schwächt.
3. Identitätsunsicherheit in einer Welt unbegrenzter Möglichkeiten
Menschen benötigen ein konsistentes Selbstbild (was ich über mich denke, passt zu dem, wie ich mich verhalte), um sich stabil orientieren zu können. In modernen Gesellschaften lassen sich jedoch parallel zahlreiche Identitäten leben: beruflich, privat, digital, sozial. Das eröffnet Freiheit - erzeugt aber auch einen Zustand permanenter Vergleichbarkeit und Selbstoptimierung.
Das kann laut Mag. Christa Schirl zu Unsicherheit führen: Wer bin ich, wenn ich laufend neue Rollen einnehmen muss? „Studien zeigen, dass ein instabiles Selbstkonzept die Anfälligkeit für Angst, Entscheidungsüberforderung und chronische Selbstzweifel erhöht“, betont die Klinische Psychologin.
4. Beschleunigung, Multitasking und der Verlust echter Regeneration
Unsere Alltagswelt ist massiv beschleunigt. Viele Menschen stehen unter einem ständigen Anpassungs- und Funktionsdruck: immer verfügbar, multitaskingfähig, ständig in mehreren Rollen präsent. Eine typische Szene: Ein berufstätiger Elternteil sitzt in einer Videokonferenz, während er das Mittagessen vorbereitet und gleichzeitig Nachrichten am Smartphone beantwortet.
Unsicherheit lässt sich nicht beseitigen. Aber wir können lernen, Einfluss auf das zu nehmen, was wir kontrollieren können

Mag. Christa Schirl, Klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin und Psychotherapeutin
Bild: Peter Baier
Das Gehirn springt ununterbrochen zwischen Aufgaben, anstatt in die für Regeneration notwendige monotone Konzentration zu gehen.
Das Ergebnis ist ein Zustand chronischer Aktivierung – ein Nervensystem, das kaum noch in den Entspannungsmodus des Körpers findet.
5. Wegfall früher Hilfen
Der zunehmende Druck im Gesundheits- und Sozialwesen führt dazu, dass niederschwellige Unterstützungsangebote abgebaut werden – genau jene Strukturen, die präventiv wirken und Stabilisierung ermöglichen.
Psychologisch ist das fatal: Menschen suchen dann erst Hilfe, wenn Belastungen bereits chronifiziert sind. Risiken wie Isolation, Überforderung und psychische Krisen steigen messbar an.
6. Gewalt im TV – ein unterschätzter Stressverstärker
Mediale Gewalt hat in Intensität und Alltagspräsenz deutlich zugenommen. Inhalte, die vor 20 Jahren nicht im Vorabendprogramm denkbar gewesen wären, gelten heute als normal. Die Bildsprache ist schneller, härter und emotional invasiver. Christa Schirl gibt zu bedenken: „Neurowissenschaftlich gilt: Das Gehirn unterscheidet reale und mediale Bedrohung nur begrenzt.
Gewaltbilder aktivieren das Stress- und Alarmsystem, auch wenn wir rational wissen, dass es ,nur‘ Fiktion ist.“
Dazu kommt die Reizüberflutung durch schnelle Schnitte – das Nervensystem kann diese Informationsmenge kaum verarbeiten. Langfristig verschiebt sich die Wahrnehmung dessen, was gefährlich erscheint. Die Welt wirkt bedrohlicher, als sie tatsächlich ist – ein Nährboden für diffuse Angst und Anspannung.
7. Schrumpfende Natur- und Erholungsräume
Zugang zu Natur ist eine der stärksten psychischen Regenerationsquellen. Verdichtung, Lärm, Lichtverschmutzung und Beschleunigung im urbanen Raum führen jedoch dazu, dass natürliche Rückzugsorte verloren gehen.
Was früher ein Waldstück, ein verwilderter Garten oder ein ruhiger Grünstreifen waren, wird zunehmend verbaut.
Die Forschung zeigt: Fehlende Naturreize erhöhen Stress, beeinträchtigen die Erholung und reduzieren die emotionale Widerstandskraft, also die Fähigkeit, nach Rückschlägen wieder aufzustehen und sich nicht unterkriegen zu lassen. Oft verwechseln Menschen Pause mit Bildschirmzeit. Wahre Regeneration entsteht, wenn wir bewusst abschalten, Natur erleben oder monotone Tätigkeiten machen - das stärkt nicht nur die Psyche, sondern auch das Gefühl: Ich kann mein Leben gestalten.
8. Klimakrise: Psychische Belastung auf mehreren Ebenen
Die Klimakrise wirkt psychisch sowohl direkt als auch indirekt.
Direkt durch Extremwetterereignisse, Hitze und Umweltveränderungen. Studien zeigen etwa, dass hohe Temperaturen Aggressionsverhalten und häusliche Gewalt messbar erhöhen – Hitze reduziert die kognitive Kontrolle, also die Fähigkeit, die eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen bewusst zu steuern, statt automatisch oder impulsiv zu reagieren, und steigert Reizbarkeit.
Indirekt durch Zukunftsangst, ökologische Trauer, Schuldgefühle und ein Gefühl globalen Kontrollverlusts. Die Klimakrise greift damit tief in das psychische Sicherheitserleben ein – ein Zustand, der viele Menschen in latenter Alarmbereitschaft hält.
Fazit
Viele der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen wirken auf das Nervensystem wie ein dauerhaft aktivierter Alarmknopf. Das Gefühl ständiger Unsicherheit entsteht nicht zufällig, sondern ist das Resultat einer Kombination aus Einsamkeit, Identitätsinstabilität, Reizüberflutung, sozialem Druck, ökologischer Belastung und dem Verlust von Regeneration.
Die Psychologin betont: „Unsicherheit lässt sich nicht beseitigen. Aber wir können lernen, Einfluss auf das zu nehmen, was wir kontrollieren können – Grenzen setzen, Entscheidungen treffen, Verbundenheit suchen. Das ist der Kern von psychischer Widerstandskraft.“
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