Kolumne Im Gespräch

Indianer kennen keinen Schmerz

Leben
01.07.2018 08:00

„Kopf hoch! Das wird schon. Denk positiv“, sagten sie. Und ich hätte schreien können. Aber ich blieb stumm. Was hätte ich auch sagen sollen? Sie meinten es ja gut. Aber meinten sie es auch gut mit mir?

Es war die Zeit, in der wir erfahren hatten, dass das Baby in meinem Bauch schwer krank zur Welt kommen würde. Und ich konnte vor Sorge kaum atmen. „Mach dir nicht so viele Sorgen. Das schadet dem Kind“, sagten sie. Und sofort fühlte ich mich noch schlechter. Zu meinem Leid gesellte sich die Sorge, dass ich mein Leid nicht zeigen dürfte. Nicht mal fühlen dürfte. Ich fühlte mich unverstanden. Ungesehen. Und ich beschloss, nicht mehr so viel über „die Sache“ zu reden.

Bei meiner Tätigkeit als Seelsorgerin habe ich viele Menschen kennengelernt, denen es ähnlich geht. Die gelernt haben, ihre Sorgen für sich zu behalten und zu lächeln. Weil das Umfeld ihre Sorgen nicht (v)erträgt. Weil es eben anstrengend ist, die Gefühle anderer auszuhalten. Oder auch nur nachzuvollziehen. Wie lange darf ein 65-Jähriger um seinen 90-jährigen Vater trauern? Er war doch alt und sein Ende absehbar. Wie lange darf eine Mutter über den Tod ihres ungeborenen Säuglings weinen? Eines Kindes, das sie doch eh nie kennengelernt hat? „Reiß dich zusammen!“, sagen dann viele.

Schon als Kinder hören wir: „Indianer kennen keinen Schmerz!“
Oder mit den Worten Franz Grillparzers für Erwachsene übersetzt: „Das sind die Starken, die unter Tränen lachen, eigene Sorgen verbergen und andere glücklich machen.“ Es gibt viele solcher Weisheiten. Und sie werden dem Einzelnen nie gerecht. Allenfalls dem Umfeld, das sich weiter in Sicherheit wiegen darf, bis das Schicksal auch dort zuschlägt. Hilfreich wäre stattdessen echtes Mitgefühl. Worte wie: „Weine nur. Weine ruhig laut. Ich halte das aus.“ Oder: „Ich habe keine Ahnung, wie du dich fühlst. Aber erzähl mir davon!“ Offenheit, Einfühlungsvermögen und die Kraft, einen Zustand aushalten zu können, das ist es, was Betroffene von ihrer Umgebung brauchen.

Und das gilt nicht nur für Krankheiten oder Schicksalsschläge. Das gilt genauso für Überforderung in der Familie oder am Arbeitsplatz, für Geldsorgen, Ehe- oder Sinnkrisen. All das ist Realität. Und kann für jeden von uns zur Realität werden. Nichts davon werden wir mit „klugen“ Ratschlägen oder Pauschalweisheiten wegwischen können. Stattdessen sollten wir diesen Gefühlen Raum geben. Das Alte Testament wusste das. Dort heißt es: „Alles hat seine Zeit. Weinen hat seine Zeit und Lachen hat seine Zeit. Alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde“.

Evangelische Vikarin Julia Schnizlein, Kronen Zeitung
julia.schnizlein[@]lutherkirche.at

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(Bild: kmm)



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