Schnizleins Kolumne

Zerbrochene Bilder, Angst und Illusionen

Leben
08.04.2018 09:00

„Hans ist ausgezogen.“ Zuerst dachte ich, ich hätte mich verhört, aber dann sah ich die Tränen in Anjas Augen. Hans und Anja - in unserem Bekanntenkreis galten sie als Traumpaar schlechthin! Lebensfroh, erfolgreich, charmant, zwei reizende Kinder - wie man sich das so wünscht. Dass es hinter den Kulissen ganz anders aussah, wussten wir nicht.

Seit fast zwei Jahren hatte Hans eine Affäre mit einer guten Bekannten. Anja wusste das. Oder sie ahnte es zumindest. Aber sie wollte es nicht wahrhaben. Nicht hinsehen. Wenn sie zu zweit waren, hatten sich die beiden schon lange nichts mehr zu sagen. Sie waren allein zu zweit. Fassade und Erinnerungen hielten sie zusammen. Und nun hatte Hans den Schlussstrich gezogen. Und Anja weinte. Sie weinte um die Sicherheit, die eigentlich schon so lange Stillstand bedeutete. Um das Familienbild, das zerbrochen war. „Mutter, Vater, Kinder - so sollte es doch sein. So hatten wir uns das doch gewünscht und so hatten wir es uns bei der Hochzeit versprochen.“

Nicht selten klaffen Wunsch und Realität auseinander. Nicht nur bei Anja und Hans. Und trotzdem wollen wir es nicht wahrhaben. Halten an Illusionen fest. An Bildern von einem Leben, wie es sein könnte - während das echte Leben unbemerkt an uns vorüberzieht. Wir wagen es nicht, hinzusehen, weil wir die Realität nicht aushalten wollen. Weil wir die Konsequenzen nicht tragen wollen. Denn dann müssten wir loslassen. Und loslassen, das können wir nicht gut. Weil wir Angst haben. Angst, die Kontrolle zu verlieren. Angst vor dem, was wir nicht kennen. Angst vor dem „Scheitern“. Also halten wir lieber an Illusionen fest und vergessen darüber das Leben und uns selbst.

Im Evangelium steht: Wer aber sein Leben verliert, der wird es gewinnen. Auf Tod folgt Auferstehung! Diese Botschaft gilt nicht nur zu Ostern. Und sie gilt nicht nur für das Jenseits. Es geht darum, dass Gott in Jesus den Tod besiegt hat. Auch den Tod im Leben: Die Illusionen, die uns betäuben, die Abhängigkeiten, die uns knechten, die Angst, die uns lähmt. Mit Gott an unserer Seite können wir den Neuanfang wagen.

Natürlich sind wir nicht davor gefeit, dass es weh tut. Dass wir uns anfangs wie Versager fühlen, wenn wir unsere bisherigen Wertevorstellungen über den Haufen werfen müssen. Aber aus der Bibel wissen wir, dass Gott gerade die liebt, die vor den menschlichen Maßstäben gescheitert sind. Denn seine Wege sind nicht unsere Wege, und unsere Werte sind nicht unbedingt seine Werte. Bei Gott gelten andere Maßstäbe.

Vielleicht gelingt es uns vor diesem Hintergrund, unsere Bilder loszulassen und dem angeblichen Scheitern etwas Positives abzugewinnen. Scheitern bedeutet nicht Ende, sondern Neuanfang. Es schafft Platz für eine neue Chance. Und für ein echteres, befreiteres Leben. Auch für Anja.

Evangelische Vikarin Julia Schnizlein, Kronen Zeitung
julia.schnizlein[@]lutherkirche.at

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(Bild: kmm)



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