Säuberungswelle

Wohin sind Erdogans Gefangene verschwunden?

Ausland
03.08.2016 11:07

Mehr als zwei Wochen nach dem Putschversuch in der Türkei ist nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International der Verbleib vieler Gefangener noch immer unklar. Vor allem die Aufenthaltsorte der mutmaßlichen Rädelsführer seien nicht bekannt, sagte der Türkei-Experte der Organisation, Andrew Gardner, in Istanbul.

Nach dem Putschversuch von Teilen des Militärs am 15. und 16. Juli hat Präsident Recep Tayyip Erdogan einen 90-tägigen Ausnahmezustand verhängt. In dem Land läuft eine Säuberungswelle im Militär und bei der Polizei, in den Medien, der Justiz und im Bildungsbereich. Nach offiziellen Angaben wurden bisher fast 19.000 Menschen festgenommen, gegen mehr als 10.100 von ihnen ergingen Haftbefehle.

Fast 60.000 Suspendierungen
Ministerpräsident Binali Yildirim sagte zudem am Dienstag, es seien über 58.600 Staatsbedienstete suspendiert und fast 3500 dauerhaft entlassen worden. Die EU zeigt sich besorgt über die hohe Zahl an Festnahmen und Suspendierungen. Erdogan macht den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen und dessen Anhänger für den Putschversuch verantwortlich. Kritik am harten Vorgehen gegen mutmaßliche Verschwörer wies er zurück.

Amnesty-Experte Gardner sagte, viele Festgenommene seien aus Kapazitätsgründen überall im Land in Sporthallen oder Reitställen unter teils menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht. Es gebe jedoch keine zugängliche Liste, aus der hervorgehe, wo wer untergebracht werde. Natürlich habe die Regierung nach dem Putschversuch das Recht, den Ausnahmezustand zu verhängen, meinte Gardner. Es habe jedoch bereits zuvor Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen gegeben. Dass die Regierung nun mehr Macht erhalte, sei daher besorgniserregend.

Ankara weist alle Vorwürfe von Amnesty zurück
Amnesty hatte zuletzt auf mögliche Folter in Polizeigewahrsam hingewiesen. Ankara streitet die Vorwürfe ab. Erdogan erklärte am Dienstag, es könne sein, dass Soldaten "während der Tumulte Tritte und Schläge abbekommen haben". Für Folter gebe es jedoch null Toleranz. Gardner hält solch ein Dementi für "nicht glaubhaft".

Die Europäische Union ist in der Flüchtlingskrise auf eine enge Zusammenarbeit mit der Regierung in Ankara angewiesen. So hat die EU mit dem Flüchtlingspakt einen komplizierten Tauschhandel mit der Türkei vereinbart.

Flüchtlingspakt mit der Türkei: Debatte über "Plan B"
In der EU wird nun aber über eine Alternative zu diesem Abkommen gestritten: "Wir brauchen in jedem Fall einen Plan B", sagte der griechische Migrationsminister Yiannis Mouzalas mit Hinweis auf türkische Drohungen, das Abkommen zu beenden. Dem widersprach der EU-Obmann der deutschen Unions-Bundestagsfraktion, Detlef Seif. "Entscheidend für das Sinken der Flüchtlingszahlen ist neben dem Abkommen mit der Türkei und der Schließung der Balkanroute, den Anziehungseffekt vor allem Deutschlands zu verringern", sagte er am Mittwoch.

Auch die von Mouzalas ebenfalls geforderte sofortige Verteilung ankommender Flüchtlinge auf alle EU-Staaten sei der falsche Weg. "Das hätte einen neuen hohen Anziehungseffekt", sagte der CDU-Politiker. Griechenland müsse als Schengen-Außenstaat für die Bearbeitung der Anträge zuständig bleiben. Das derzeitige Modell sieht vor, dass die Flüchtlinge in Aufnahmezentren in Italien und Griechenland registriert und überprüft werden. Migranten ohne Bleibeperspektive in der EU sollen von dort wieder abgeschoben werden. Die anderen sollen dann auf EU-Staaten verteilt werden.

"EU-Kommission hat einen Plan A"
Die EU-Kommission will von einem Plan B jedenfalls weiterhin nichts wissen. Eine Sprecherin erklärte am Mittwoch in Brüssel, "die Kommission hat einen Plan A und der bedeutet, dass der EU-Türkei-Deal erfolgreich arbeitet".

Österreichs EU-Mandatare mehrheitlich für Asyl für Verfolgte
Österreichs EU-Parlamentarier haben sich unterdessen mehrheitlich dafür ausgesprochen, den nach dem Putsch in der Türkei politisch verfolgten Personen Asyl zu gewähren. SPÖ, Grüne und NEOS sind dafür, die ÖVP fordert eine Einzelfallprüfung, während die FPÖ vor den Folgen einer solchen "Einladung" warnt.

Der SPÖ-Europamandatar Eugen Freund begrüßte die tags zuvor von Grünen-Chefin Eva Glawischnig aufgestellte Forderung nach einem Asyl für politische Verfolgte aus der Türkei. Er will eine Resolution des EU-Parlaments. Der grüne EU-Parlamentarier Michel Reimon sagte, wie Erdogan "jetzt in der Türkei aufmischt, ist absolut inakzeptabel". Die liberale NEOS-Europaabgeordente Angelika Mlinar kann sich ebenfalls ein politisches Asyl für solche Menschen vorstellen.

ÖVP-Delegationsleiter Othmar Karas sprach sich für eine differenzierte Vorgangsweise aus. "Wer Schutz sucht und schutzbedürftig ist, muss geprüft werden, ob das zurecht besteht. Aber einen Automatismus, eine Generalklausel, kann es nicht nur gegenüber der Türkei, sondern auch generell nicht geben", sagte Karas Mittwoch. Auch FPÖ-Delegationsleiter Harald Vilimsky kritisierte den Vorschlag.

Norbert Hofer warnt vor Asyl für Erdogan-Gegner
Von der FPÖ ebenfalls zu Wort gemeldet hat sich Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer, der am Mittwoch vor einem Asyl für türkische Erdogan-Gegner in Österreich warnte. "Der erste Grün-Reflex auf die Ereignisse in der Türkei war, den vom Erdogan-Regime verfolgten Türken bei uns in Österreich Asyl zu gewähren. Soweit so gutmenschlich", attestierte Hofer den Grünen. "Nachdem in den vergangenen Jahren mit tatkräftiger Unterstützung der Grünen zigtausende Türken nach Österreich geholt wurden, die meisten davon Erdogan-Anhänger, wollen die Grünen jetzt auch die Erdogan-Gegner nach Österreich holen. Damit hätten die Grünen dann den innertürkischen Konflikt nach Österreich importiert", sagte Hofer.

Hofers Chef Heinz-Christian Strache setzt bei der Bekämpfung des "Wegs Erdogans Richtung Totalitarismus" in der Türkei auf die EU. "Statt weiterhin Milliarden an EU-Geldern via Heranführungshilfe und Asyldeal an die Türkei zu überweisen, sollten endlich Sanktionen verhängt werden. Die EU darf dem Weg Erdogans nicht tatenlos zusehen", forderte Strache am Mittwoch.

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