"Krone"-Interview

Timmermans über TTIP: “Keine Kompromisse”

Wirtschaft
11.07.2015 08:03
Der kontaktfreudige Niederländer Frans Timmermans (54) ist der Erste Vizepräsident der neuen EU-Kommission ("EU-Regierung"). Er gilt dort als Reformer. Mit ihm sprach "Krone"-Redakteur Kurt Seinitz über die aktuellen Entwicklungen in der Union. Bezüglich der Position der EU in den TTIP-Verhandlungen stellte Timmermans klar: "Wenn es um die Gesundheit geht, wenn es um Lebensmittel geht: keine Kompromisse!"

"Krone": In Europa herrscht ziemlich viel Frust. Der EU wird vorgeworfen, dass sie schlecht funktioniert. Es findet ein massiver Verlust an Solidarität statt, begleitet vom Streben zurück zu nationalen Kompetenzen. Ein Krisengipfel jagt den anderen. Regelverstöße drohen zur Regel zu werden. Wie konnte es so weit kommen?
Frans Timmermans: Zugegeben, die Angst vor einem Abstieg ist sehr groß in weiten Teilen Europas, aber die Ursache der Verdrossenheit ist ein langer Prozess. Die nationalen Regierungen schreiben sich die Erfolge gut, und wenn etwas nicht in ihrem Sinne läuft, ist es Brüssel. Dann darf man sich nicht wundern. Aber wir haben die Tragödie im Mittelmeer, und die ganze europäische Öffentlichkeit sagt, hier muss Europa gemeinsam auftreten. Ebenso haben wir es nach dem Attentat in Frankreich gesehen. Ja, es gibt eine Entsolidarisierung, aber nicht nur auf europäischer Ebene, sondern auch innerhalb der nationalen Gesellschaften.

"Krone": Macht es die EU ihren Kritikern nicht zu leicht?
Timmermans: Kritiker haben oft recht, müssten dann aber auch mit Lösungen kommen. Die Bürger brauchen mehr Klarheit, mehr Transparenz. Wir wissen, dass das europäische Projekt wieder mehr beim Bürger ankommen muss.

"Krone": Brüssel steckt in einer Zwickmühle: Einmal heißt es, Brüssel ziehe zu viel an sich, ausgedrückt in dem britischen Referendum. Dann heißt es wieder, Brüssel greift nicht ein. Wie stehen Sie zu Forderungen nach Änderungen dazu im EU-Vertragswerk?
Timmermans: Ich glaube nicht, dass wir in den nächsten Jahren Vertragsänderungen haben werden; vielleicht langfristig. Aber ich glaube schon, dass wir mit allen Staaten reden sollten, was soll die EU machen und was soll besser den Mitgliedsstaaten überlassen bleiben. Ich glaube, dass wir dazu viele Möglichkeiten innerhalb des jetzigen Vertragswerks haben. Wir könnten viel besser auftreten, das müssten wir nutzen. Jetzt haben wir einmal die Verantwortung zu beweisen, dass wir alle Möglichkeiten des Vertrags genutzt haben, bevor wir eine Debatte über Änderungen eröffnen.

"Krone": Seit über zehn Jahren hören wir das Lied von der Entbürokratisierung.
Timmermans: Da haben Sie völlig recht. Die Kommission hat das über lange Jahre versprochen, und das macht meine Arbeit jetzt nicht leichter. Ich glaube aber, wir haben Vorschläge auf dem Tisch, die unsere Arbeit grundlegend ändern werden. Es gibt zwar auch viele Mythen über EU-Bürokratie, aber wir müssen jedenfalls eine bessere Leistung für unsere Bürger bringen. Das gilt besonders gegenüber den klein- und mittelständischen Unternehmen. Die waren immer sehr proeuropäisch, aber heute leiden sie unter komplizierten Vorschriften, die ihre Tätigkeit erschweren. Da müssen wir jetzt kurzfristig dafür sorgen, dass wir das Leben dieser Betriebe erleichtern.

"Krone": Sprechen wir über TTIP. Zwei große Hürden für die Akzeptanz durch die Öffentlichkeit sind private Schiedsgerichte und gentechnisch veränderte bzw. hormonell behandelte Nahrungsmittel.
Timmermans: Da kann ich Ihnen klipp und klar sagen: Wenn es um die Gesundheit geht, wenn es um Lebensmittel geht: keine Kompromisse! Und Schiedsgerichte ohne Öffentlichkeit – das wird es nicht geben. Sie sollen eine Qualität wie normale Gerichte haben mit unabhängigen professionellen Richtern. Daran arbeiten wir und daran arbeitet auch das Europäische Parlament.

"Krone": Aber sehr "diskret".
Timmermans: Wir verhandeln diesen Vertrag mit mehr Transparenz als jemals zuvor bei solchen Verhandlungen.

"Krone": Angela Merkel hat die Massenmigration als größte Herausforderung Europas bezeichnet. Was können Sie tun?
Timmermans: Man kann da nur drei Dinge machen, und zwar in gesamteuropäischer Vorgangsweise:

  1. Bessere Abkommen mit Herkunftsländern zur Rückführung von Personen, die kein Recht darauf haben, in der EU zu bleiben
  2. Die Außengrenzen besser bewachen und dabei besser zusammenarbeiten. Die Ankommenden müssen unmittelbar registriert werden. Je länger dies dauert, desto schwieriger wird es, sie zurückzuschicken.
  3. Wir brauchen auch mehr Gerechtigkeit in der Verteilung. Einige Länder, einige Schultern sind viel zu sehr belastet. Wir müssen die Last auf mehrere Schultern verteilen.

"Krone": Da sind wir wieder bei der Entsolidarisierung. Einige wollen dabei gar nicht mitmachen.
Timmermans: Ich habe noch keine besseren Vorschläge gesehen. Wenn einige Länder glauben, sie können das in einem Alleingang lösen – das wird nicht funktionieren.

"Krone": Die EU-Bürger sind besorgt, dass die Sozialsysteme diese Belastung – auch durch Migration innerhalb der EU – nicht mehr aushalten.
Timmermans: Zwar muss der freie Personenverkehr innerhalb der EU aufrechterhalten bleiben, doch bedeutet das nicht, dass jemand, der in einem anderen Staat Arbeit sucht, automatisch das Recht auf Zugang zur sozialen Sicherheit hat, nur weil er EU-Bürger ist. Das müssen wir klarstellen, und so hat auch der Europäische Gerichtshof entschieden. Es gibt also die Möglichkeit, mit den Mitgliedsstaaten darüber zu reden, was wir in diesem Bereich machen können, ohne das EU-Vertragswerk zu verletzen.

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