Brisanter Rauswurf

Darum musste Selenskyjs „General des Volkes“ gehen

Ausland
10.02.2024 06:00

Streit um die richtige Strategie oder gekränkte Eitelkeiten? In der Ukraine galten Präsident Wolodymyr Selenskyj und Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj einst als Erfolgs-Tandem, am Donnerstag wurde der Militärchef abgesetzt. Das sind die Hintergründe!

Als Grund für den Umbau in der Armeeführung gibt Selenskyj die Notwendigkeit eines „neuen Schwungs“ und „umfassenden Neustarts“ an.

Dennoch fließen weiter die pikanten Interna: Demnach hatte schon früher ein Treffen stattgefunden, bei dem der Präsident dem Chef der Streitkräfte den Rücktritt nahelegte, dieser jedoch abgelehnt habe.

Entlassener Armeechef beliebter als Selenskyj 
Lange zögerte Selenskyj augenscheinlich aufgrund des negativen öffentlichen Echos mit der Entlassung des populären Kommandeurs. Beobachter sehen in Saluschnyj den Strategen hinter der erfolgreichen Verteidigung Kiews 2022 und dem Zurückdrängen der russischen Truppen aus anderen besetzten Gebieten.

Am Freitag musste der nächste General seinen Hut nehmen
Am Freitag folgte dann der nächste Paukenschlag: Generalmajor Anatolij Barhilewytsch werde neuer Generalstabschef, teilte Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache mit. Barhilewytsch folge auf Serhij Schaptala. Die Ernennung sei auf Vorschlag des neuen Oberbefehlshabers Olexander Syrskyj erfolgt. Damit wurden in dieser Woche auf einen Schlag zwei der für die ukrainische Kriegsführung prägendsten ukrainischen Militärs hinausgeworfen.

Die Beteiligten heizten zuvor die Spekulationen auch noch an: Inmitten der Entlassungsgerüchte verbreitete Saluschnyj ein gemeinsames Foto mit Schaptala zu dessen Geburtstag. „Für uns wird es noch sehr schwer werden, aber niemand wird sich für etwas schämen müssen“, schrieb er zu der Aufnahme.

Selenskyj will „frische Energie“
In einem Interview mit dem italienischen Fernsehen ließ der Präsident durchblicken, was ihn umtreibt. „Wenn wir siegen wollen, dann müssen wir alle zu Anführern des Sieges werden“, sagte er und forderte einen „umfassenden Neustart“. Der Staatschef führte dabei aus, dass es ihm nicht nur um eine Auswechslung der Militärführung gehe. Die Forderung nach einem Neustart wiederholte er in seiner Videobotschaft am Montag. Die Ukraine brauche „Kraft und frische Energie“, um zu siegen.

Diese vermisste der Präsident offenbar bei Saluschnyj, nachdem dieser im November in einem viel beachteten Interview und einem Aufsatz für das britische Magazin „Economist“ von einer Pattsituation gesprochen hatte. „Es wird keinen tiefen und schönen Durchbruch geben“, unterstrich Saluschnyj damals und sollte – zumindest bis heute – recht behalten.

Damit rüttelte der Militär an der Vorgabe des Präsidenten, dass eine Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete unumgänglich und auch möglich sei. Selenskyj widersprach seinem Oberbefehlshaber anschließend öffentlich und warf dem General indirekt bereits politische Ambitionen vor.

Die Realität gibt dem General recht
Doch die Realität ist ernüchternd. Die mit großen Erwartungen und westlicher Militärtechnik gestartete ukrainische Sommeroffensive im Süden des Landes ist weitgehend gescheitert. Statt bis an die Küste des Asowschen Meeres und zur Schwarzmeerhalbinsel Krim vorzurücken, blieben die ukrainischen Angriffe nach wenigen Kilometern in den dichten Minenfeldern, dem massiven russischen Artilleriefeuer und Drohnenangriffen stecken. Kiew hat das Scheitern dabei bis heute nicht wirklich eingestanden.

Ein weiterer Streitpunkt ist die Rekrutierung von Soldaten. Bei der Jahrespressekonferenz im Dezember schob Selenskyj die Verantwortung für eine verschärfte Mobilmachung öffentlich der Militärführung zu.

Truppe hat Personalprobleme
Mehr noch zog der Präsident den angeblich angemeldeten Bedarf von einer halben Million zusätzlicher Soldaten in Zweifel. „Das ist eine sehr ernste Zahl. Ich benötige mehr Argumente, um das zu unterstützen“, erklärte er den anwesenden Journalisten. Unklar seien dabei die Finanzierung und der Zweck einer so hohen Zahl. Gesetzentwürfe für Mobilmachungsmaßnahmen stecken im Parlament fest. Die Lösung des offenkundigen Personalproblems der Truppe ist nicht in Sicht.

Saluschnyj ließ es sich daher in einem weiteren Aufsatz am vergangenen Donnerstag auf der Webseite des US-amerikanischen Senders CNN nicht nehmen, der politischen Führung einen Seitenhieb zu versetzen. Im Hinblick auf die relativ erfolgreichen Rekrutierungsmaßnahmen Russlands schrieb er von der „Unfähigkeit staatlicher Institutionen in der Ukraine, die Personalstärke unserer Streitkräfte ohne den Einsatz unpopulärer Maßnahmen zu erhöhen“. Er warf damit Selenskyj vor, aus Angst vor dem Zorn des Volkes die Verantwortung für die notwendigen Maßnahmen nicht übernehmen zu wollen.

Ein General des Volkes
Kritiker Selenskyjs sehen einen weiteren Grund für einen Rauswurf Saluschnyjs auf persönlicher Ebene. In Umfragen liegen die Beliebtheitswerte des Ex-Schauspielers seit langem hinter denen des Armeechefs. Im Dezember vertrauten ihm nur noch 62 Prozent. Saluschnyj hingegen wusste ganze 88 Prozent der Befragten hinter sich. Selenskyj ertrage es nicht, sich die Bühne mit anderen zu teilen, lästern Beobachter wie der Militärjournalist Jurij Butussow.

Nun schien das Präsidentenbüro nach einem geeigneten Moment zu suchen. Dem Ex-Parlamentsabgeordneten Ihor Mossijtschuk zufolge konnte die Gefahr einer neuen Niederlage als Rechtfertigung für die Entlassung dienen.

Es geht um den Verlust von Awdijiwka, also der erzwungene Rückzug aus der Stadt. Die schlechten Nachrichten von der Front aus der ostukrainischen Industriestadt lassen eine baldige Eroberung durch russische Truppen umso wahrscheinlicher werden.

Im Kreml schaut man genüsslich zu
Moskau beobachtet dabei mit freudigem Interesse den Machtkampf in Kiew. Für den ukrainischen Abwehrkampf gegen die russische Invasion hingegen ist dieser Konflikt ein gefährlicher Nebenkriegsschauplatz.

Er lähmt die ukrainischen Streitkräfte, und eine Demission des bei seinen Untergebenen beliebten General Saluschnyj könnte zudem die Motivation der Kämpfer an der Front erheblich dämpfen. Das wäre für den weiteren Kriegsverlauf ein wesentlich herberer Verlust als ein Rückzug aus der Kleinstadt Awdijiwka.

Mit Agenturmaterial

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