„Krone“-Interview

Kora Winter: Das „hässliche Kind“ Deutschlands

Musik
05.01.2024 09:00

Harte Songs aus der Perspektive eines Migranten zweiter Generation - das ist der Grundbau der Berliner Metalcore-Band Kora Winter, die sich mit Themen befasst, die in der Szene weithin als Tabu behandelt werden. Frontmann Hakan Halaç erklärt im „Krone“-Talk, wie seine Lebensrealität aussieht und weshalb Musik das richtige Ventil für seine Gedanken ist.

(Bild: kmm)

Vor etwa zehn Jahren flatterte Hakan Halaç über Nacht der Name Kora Winter im Schlaf zu, eine tiefere Bedeutung steckt nicht dahinter. Mit Freunden und Gleichgesinnten gründete er aber wenig später die gleichnamige Band, die einige Jahre lang mit einer Mischung aus Metalcore, Progressive Metal und Alternative-Zitaten von Berlin aus durch Deutschland tingelte. Halaç selbst ist hauptberuflich in Podcast- und allgemeinen Mediengefilden unterwegs und drückt sich neben Kora Winter musikalisch auch noch als Rapper bei Haxan aus. Dass diese beiden so konträr wirkenden Welten keinen Widerspruch darstellen müssen, beweist er mit ähnlich gelagerten Inhalten.

Mit dem zweiten Full-Length-Album „Gott segne, Gott bewahre“ tritt der türkischstämmige Frontmann endgültig einen Schritt nach vorne und beleuchtet in zumeist harten, manchmal aber auch melancholisch-nachdenklichen Momenten den Lebensalltag aus der Sicht eines Migranten zweiter Generation in Deutschland. Im weiten Feld des Heavy Metal noch immer ein Novum, versucht das Quartett damit auch die Band zu sein, die vielen Menschen fehlt. In Songs wie „Der missratene Sohn“, „Neuer Tag im Rattenloch“ oder „Das Trauma, die Trauer“ befasst sich die Band mit Themen, die vielen als zu unbequem erscheinen. Am 18. Jänner kommen Kora Winter in den Wiener Viper Room.

„Krone“: Hakan, die harte Musik besteht bei dir aus zwei Welten. Einerseits rappst du unter dem Namen Haxan, andererseits stehst du der Metalcore-Band Kora Winter vor. Wie verlief dein Sprung in die Welt der Musik?
Hakan Halaç:
Meine erste Erinnerung an extremer Musik ist die allererste Einstellung des Slipknot-Videos von „Duality“. Ich habe vorher schon Linkin Park gehört, aber das hat alles verändert. Ich wurde in Südberlin groß und habe parallel dazu Bushido oder Berlin Crime gehört. Dann gab es noch Basstard, der quasi Erfinder von Horrorkore war. Ich hatte immer das Gefühl, zwischen zwei Welten zu springen. Einerseits die Leidenschaft für Rap, Hip-Hop und elektronische Musik, andererseits Metal, Hardcore und harter Rock.

Die Querverweise zwischen Rap und Metal sind dichter verstrickt als das viele Leute oft glauben wollen …
Heute sogar noch stärker als früher. Mich haben diese Crossover-Projekte nie total abgeholt, aber die Querverweise sind eindeutig. Hip-Hop, Trap und Metal funktionieren heute besser denn je. Früher gab es viel größere Kulturkriege. Viele Bands bestanden aus zwei Leuten, die sich nie die Hand geben würden, aber trotzdem zusammen auftraten. Hinten so ein muffiger Gitarrist im Metalshirt, vorne ein Rapper mit Basecap und ausladenden Baggy-Hosen. (lacht) Das passte eigentlich nicht so ganz. Limp Bizkit war cool, das hat funktioniert, weil es so stumpf war. Auch Linkin Park mit Jay-Z. Es gab in Deutschland aber auch viele Rapper, die versuchten, Rock und Metal zu vermischen und diese Projekte waren ausnahmslos schlecht. Nicht alles muss existieren.

Drückst du dich in beiden Projekten auch inhaltlich gleich aus, oder sind Kora Winter und Haxan bei dir deutlich voneinander abgetrennt?
Bei Haxan war ich das erste Mal richtig introspektiv und konkreter. Im Song „Frieden“ habe ich explizit über meine Kindheit und Eltern gesprochen, das habe ich bei Kora Winter davor nie gemacht. Das hat mich dazu bewegt, auch bei Kora konkreter und deutlicher zu werden. Die Art und Weise, wie ich jetzt auf „Gott segne, Gott bewahre“ getextet habe, beeinflusst sicher auch die nächsten Haxan-Songs. Ich versuche möglichst keine Grenzen zwischen beiden Projekten zu ziehen. Bei beiden ist das Potenzial für Chaos offen.

„Gott segne, Gott bewahre“ erzählt sehr viel von dir und ist größtenteils ein ziemlich dunkles Album.
Je länger ich an diesem Album arbeitete, umso mehr habe ich es reflektiert. Es ist wie ein großes Gemälde von Hieronymus Bosch. Es passiert darauf extrem viel, aber wenig Gutes. So, als würdest du bei jedem Song auf ein bestimmtes Bosch-Teil des Gemäldes reinzoomen und am Ende kannst du es zusammensetzen. Nur in ganz wenigen Passagen werde ich klar politisch, weil recht klar ist, dass ich aus meiner Position bzw. meinen Erfahrungen heraus spreche.

Steckte dieser Wunsch, dein Leben, deine Herkunft und deine Realität in der Musik abzubilden, immer in dir? Oder hat sich das über die Jahre so entwickelt?
Eigentlich habe ich große Probleme damit, so konkret zu werden. Es fällt mir noch heute schwer, weil ich nicht will, dass es Leute, die mir nahestehen, falsch verstehen könnten. Leute in meinem nächsten Umfeld haben mich gar nicht so oft auf meine Texte angesprochen. Ich habe das Gefühl, dass ich mich jedes Mal ein bisschen überwinden muss. Es ist nicht in meiner Natur, dass ich so konkret werde. Die alten Texte bei Kora Winter waren kryptisch und das hat mich sehr genervt. Es war zwar eine hübsche Wortmalerei, aber das intrinsische Gefühl von Ausdruck war so groß, dass es mir zu schade war, meine kultivierten Texte decodieren zu lassen. Dann gebe ich doch lieber gleich klar vor, was wie zu verstehen ist und höre auf, mich hinter Lautmalerei zu verstecken.

Gibt es eine Verbindung zwischen der unsicheren Phase, wenn du die Texte schreibst, und dem Gefühl der Befreiung, wenn du die Songs dann auf der Bühne für andere spielst?
Offensiv ist dafür das richtige Wort. Ich mache Positionen klar, eigne mir Themen an und live merke ich, wie mich das bestärkt. Im Studio ist das ganz anders. Wenn ich ein Take vier- oder fünfmal einsinge, fühlt sich alles sinnentleert an. Man verliert die Zufriedenheit am Material und erst auf der Bühne findet wieder alles seinen Platz. Ich hoffe natürlich, dass die Songs die Leute zum Nachdenken anregen oder sich die Energie überträgt. Die Menschen müssen nach der Show aber nicht alle politisiert sein.

„Gott segne, Gott bewahre“ ist ein interessanter Albumtitel. Wie hast du es allgemein mit Religion?
Sie ist für mich genauso wichtig wie anderes. Selbst Agnostiker oder Atheisten sind von Religion umgeben. Fast jede Stadt ist um eine Kirche herum gebaut, die Religion ist in unseren Breitengraden omnipräsent. Ich war früher in einem evangelischen Kindergarten, habe Gottesdienste mitgemacht und musste beten. Sie war früh ein präsenter Teil in meinem Leben und ich habe auch in meinem Umfeld Leute, die religiös sind. Ich bin ein Beobachter und finde es interessant zu sehen, dass Leute ein ganzes Leben auf eine Religion stützen. Worin Leute Sinn im Leben finden. Jeder glaubt auf seine Art auf irgendwas. Bei manchen ist dann eben Geld der Gott.

Ist der Albumtitel vielleicht so zu interpretieren, dass sich die Menschen zu sehr an einen religiösen Glauben lehnen und lieber individuell für sich selbst Dinge finden sollten, an die sie ihren Glauben stützen?
„Gott segne, Gott bewahre“ ist ein bisschen eine Anspielung auf die Tendenz zu sagen, dass alles Gute, was mir gegeben wurde, von einer großen Macht kam. Alles Schlechte will an mich ran und anstatt selbst in Aktion zu treten, hoffe ich, dass diese Macht mich beschützt. Es geht darum, dass man sich auf die äußeren Umstände verlässt, dass etwas besser wird, anstatt selbst dazu den Anfang zu machen. Wenn du hoffst, dass Gott dich vor etwas bewahren soll, trittst du zwar in Aktion, aber du hoffst trotzdem, jemand anders lindert dein Leid. Der Titel ist auch ein guter Teaser dafür, dass es auf dem Album um Dualitäten geht.

In Österreich ist der Katholizismus so stark in den Köpfen integriert, dass man sich oft automatisch für Dinge schuldig fühlt. Ist Religion nicht auch ein Hindernis zur Selbstentwicklung?
„Schuld“ ist der letzte Song am Album und da geht es genau darum. Ich bin froh, dass ich nie so extrem religiös aufgewachsen bin. Meine Eltern kommen aus der Türkei, waren da aber auch nicht so arg. Ich sehe aber bei Freunden und Familienmitgliedern, wie sie heiraten und wie schwer sie geprägt sind. Ich habe mich mit vielen von denen im Park besoffen und am nächsten Morgen lassen sie sich Oblaten in den Mund legen und sind plötzlich konfirmiert. (lacht)

Das Wort „Gott“ bläht ohnehin schon jede Thematik auf, weil es schwer und wirkmächtig ist. Du bedienst dich am Album auch sehr gerne biblischer Zitate oder Anlehnungen.
Ich bin dahingehend auch ein Frechdachs, der sich das aneignet. Das kann man sicherlich kritisch sehen, weil ich mit Begriffen um mich werfe, die sehr gläubigen Leuten gar nicht passen. Ich habe auf meinem Rücken eine riesengroße Mutter Maria tätowiert, ich glaube, ich darf das. Sie schützt und ist für mich wie eine Farbe, mit der ich male. Ich bediene mich allgemein gerne an Kunstwerken und alter Renaissance für meine Visuals. Ich finde die Symbolik sehr schön und ob ich die christliche, fundamentalistische Kirche per se gut finde, ist eine andere Sache. Für die Kunst greife ich einfach zu.

Suchst du in der Musik nach Schutz und Geborgenheit?
Auf jeden Fall. Daran habe ich früher viel stärker geglaubt, bis ich merkte, dass die Musik gar nicht so ein toller Schutzraum ist. Sie ist ein Ventil, aber nicht die Lösung meiner Probleme. Ich habe früher Sachen gesagt wie Musik wäre Therapie für mich. In erster Linie ist aber Therapie Therapie und Musik ist Musik. Sie ist ein Zeitstempel für meine Gedanken, aber kein Raum, in dem ich mich total flüchten kann. Dafür mache ich auch nicht regelmäßig genug Musik. Ich bin dann aktiv, wenn sich genug Ideen zusammengesammelt haben, aber ich stehe nicht morgens auf und mache zwei Beats, haue die in einen Ordner am Laptop und schraube dann dran herum. Ich werde von Kunst, von Büchern und anderer Musik inspiriert. Irgendwann braut sich darauf etwas zusammen.

„Gott segne, Gott bewahre“ klingt inhaltlich trotz allem sehr vielseitig. Es ist kein klassisches Konzeptalbum?
Nein, das wollte ich nicht. Das Debütalbum „Bitter“ war eher in die Richtung tendiert, aber hier wollte ich kein Konzept verfolgen, sondern habe die Songs einfach gemacht und sie sprechen lassen. Mir ist schon bewusst, dass ein Track namens „BBDDSSMM“ auf einem Album namens „Gott segne, Gott bewahre“ aus dem Rahmen fällt, aber ich habe irgendwann einfach gemacht und nicht alles analysiert. Ich muss mich nicht rechtfertigen und niemandem was beweisen. Wenn die Idee da ist, dann setze ich sie um.

Welcher Idee liegt „BBDDSSMM“ zugrunde? Der Track ist auch musikalisch klar herausstechend.
Die Grundidee sind intrinsische Gedanken, denen man immer schwieriger widerstehen kann. Manchmal tut man sich schwer, seinem Verlangen nachzugehen. Man ist stark geprägt von einer klassischen Männlichkeit und Cis-Hetero-Sexualität, aber ich habe in mir auch das Bedürfnis nach einer gewissen Queerness. Diese Gedanken werden immer lauter und irgendwann kann man sie nicht mehr von sich weisen. Die klassische Männlichkeit hat mir nie gepasst. Obwohl ich in Berlin bin, hatte ich in meinen frühen 20ern überhaupt keine Berührungspunkte mit einer queeren Kultur. Ich bin viel zu wenig klar mit meiner eigenen Auffassung von Männlichkeit. All das hat mich dann zu diesem Song inspiriert.

Ein sehr starker Song ist auch „Das Trauma, die Trauer“. Liegt diese Nummer einem eigenen Trauma von dir zugrunde?
Eigentlich traumatisiert einen die Welt dauerhaft. (lacht) Ich habe eher das Trauma und die Trauer meiner Eltern gemeint, die ich mit vererbt bekam. Ich wurde als Migrant der zweiten Generation von ihnen erzogen und habe das  mitgekriegt, was sie an schlimmen Dingen erlebt haben. Das trage ich zu einem gewissen Teil mit mir und ich weiß selbst gar nicht so genau, was diese Traumata eigentlich sind. Erst durch starke Selbstreflexion findet man heraus, dass man gewisse Dinge verspürt, weil die Mutter oder der Vater so sind. Gewisse Traumata sind in Deutschland mit einem türkischen Namen manchmal unvermeidlich.

Ich will nicht „rassistische Anfeindung“ sagen, aber wenn ich eine Wohnung suche, ist das für mich immer Stress, wenn ich mich mit dem Namen Hakan Halaç bewerbe. Ich schreibe dann meine Berufsausbildungen und Uni-Abschlüsse direkt in die erste Zeile, damit ich überhaupt Chancen habe. Ich bin ultradeutsch, bin hier aufgewachsen und spreche die Sprache fließend. Auf dem Papier habe ich gegen Max Mustermann aber meist keine Chance. Das ist eine Realität, die viele nicht einsehen wollen, die ich aber öfters erlebt habe. Auch bei Behörden. Ich muss meinen Duktus ändern und auf intelligent machen, weil es notwendig ist. Man muss oft doppelte Arbeit leisten. Das ist kein Trauma, aber es bringt eine gewisse Trauer mit sich. (lacht)

Ich kenne kaum Bands, vor allem nicht im härteren Sektor, die sich derzeit so klar dem Thema Migration widmen.
Ich sage ganz klar, dass wir hier in Deutschland sicher die erste Metalband sind, die das auf diese Art und Weise macht. Es geht nicht um das Fausthochheben, Parolenschleudern oder „Wir gegen die“-Skandieren, sondern um meine Lebensrealität. Ich freue mich auf eine gewisse Art, dass dieses Album gemacht wurde. Meinem inneren Kind würde es gut gefallen. Ich habe es für mich und für den deutschen Metal gemacht. Ich finde, dass er so ein Album verdient hat und es erweitert die Spannweite dafür, was der Metal in Deutschland auch sein kann.

Soll das Album mit seinen Inhalten schlussendlich auch jüngere Kids in ähnlichen Situationen unterstützen?
Was auf Berlins Straßen passiert ist oft irrelevant, wenn du das Thema im Internet auf ganz Deutschland umgemünzt siehst. Da spielt sich der politische Diskurs die meiste Zeit ab, außer es wird so brenzlig wie beim Israel/Palästina-Konflikt, wo sich der Protest laut auf die Straße verlagert. Ich würde mir natürlich wünschen, dass dieses Album Migranten in erster und zweiter Generation eine Heimat bietet. Ich kann es aber nicht ändern, dass Metal-Deutschland sehr weiß ist und ich mir eine Bürde aufgestellt habe, dieses Thema unter vielen weißen Leuten verständlich zu machen. Ich weiß, dass viele die Musik trotzdem gerne hören und das Migrantenthema vielleicht gar nicht so präsent ist, aber natürlich ist das Album auch ein Risiko. Viele Leute wollen die Wahrheit nicht hören. Wenn ich sage, es gibt zu wenig migrantische Personen in Bands, kommen sofort Gegenstimmen.

Ist Kora Winter für dich ein bisschen die Band, die du als Fan in der Kindheit gerne gehört hättest?
Voll. Ich liebe das Musikmachen, aber es gibt Momente, wo es mir zu viel wird. Doch jedes Mal, wenn ich daran denke, weiß ich, dass niemand sonst diese Band machen würde. Es gäbe dann keinen großen Grund mehr, mich für Metal zu interessieren. Mein Anspruch ist es, Musik zu machen, die zeitlos ist. Musik ist dann ja doch so etwas wie Therapie für mich. (lacht) Zumindest eine innere Heilung oder eine Katharsis. Musikmachen ist ein Endorphinrausch und es hat keine therapeutische Wirkung per se. Eine echte Therapie zu machen bedeutet, das Ego aufzubrechen und das wirkliche Bedürfnis herauszufinden. Das ist so, wie zu sagen, ich heile meine Langeweile mit Alkohol. Das geht vielleicht ein oder zwei Jahre gut, aber es wird nicht das Problem lösen.

Bist du aus der Sicht anderer „Der missratene Sohn“, wie eines der Lieder am Album heißt?
(lacht) In einer Gesellschaft, die die Toleranz nicht hat, die sie haben sollte. Man ist ein bisschen das hässliche Kind. Ich bin in Deutschland groß geworden und mein Papa hat die deutsche Staatsbürgerschaft, aber trotzdem bin ich ein bisschen das ungeliebte Kind. Deutschland muss mich aber lieben und mitnehmen. Ich kriege hier alle Vorteile und Chancen, aber das übersetzt sich nicht wirklich in dieselben Chancen, die eine weiße Akademikerfamilie hat.

Ist ein Song wie dieser ein humoriges Provozieren der Konservativen und Ewiggestrigen?
Durchaus. Deshalb rede ich die ganze Zeit von Göttlichkeit, weil ich weiß, dass es Konservative triggert. Das Cover mit mir als Teufel ist auch eine Provokation. Es ist eine extreme Aneignung und Ästhetisierung. Wir sind eine kleine Nischenband, die sicher kein großes Erdbeben in der christlich-fundamentalistischen Gesellschaft auslöst, aber es macht natürlich Spaß, mit ein bisschen Humor anzuecken.

Inwieweit ist der Humor in den Songs zulässig, wenn das Grundthema ein ernstes und oft auch trauriges ist?
Bei mir ist Humor für vieles ein Bewältigungsmechanismus. Dass ich dann einen akademischen Bildungsweg einschlagen konnte, ist Grund dafür, dass mir ganz schlimme Erfahrungen verwehrt blieben. Die beobachtete ich im Freundeskreis, aber nicht bei mir selbst. Das ist vor allem im türkischen und arabischen Bereich sehr stark ausgeprägt. Ich kann die Dinge gut handeln und auf lange Sicht mit Humor nehmen. Mir fiel das aber nicht immer leicht und die Zeiten werden wieder schwerer. Der Alltagsrassismus wird schlimmer und das finde ich nicht lustig, aber noch kann der Humor ein szenisches Mittel bzw. eine Überzeichnung bleiben.

Mit Kora Winter benötigst du aber trotzdem ein harsches, wütendes Ventil, um die Themen mit Humor zu kanalisieren?
Ja schon. Ich kenne nur das Bedürfnis, Metalmusik machen zu wollen. Ich könnte auch Singer/Songwriter sein, aber ich brauche das Raue. Gleichzeitig bin ich eine Spiegelung der Kultur, die mich gemacht hat. Deshalb will ich alles in Metalform machen. Ich bin Metalfan und ein Hardcore-Kid und kein Jazz-Musiker. Zumindest noch nicht. „Gott segne, Gott bewahre“ hätte genauso gut von Haxan kommen können, aber es hat ins Bandkorsett gepasst. Außerdem ist die Band zu einem großen Teil migrantisch geprägt. Egal welche Musik ich produziere, sie hat immer ein Sturm-und-Drang-Element. Ich würde in Zukunft auch gerne ein paar ausgeruhte Nummern schreiben und von dort an weiterschauen.

Was sagt eigentlich das Intro „(fifteen seconds to think)“ am Beginn des Albums aus?
Dem zugrunde liegt ein Gespräch mit einer Freundin, die Tarot-Karten legt. Sie legte sie mir Ende 2022 für 2023 und diesen Teil habe ich aus dem aufgezeichneten Gespräch rausgeclippt. Ich fand es spannend, dass sie mich fragte, welche Frage ich an das Schicksal stellen würde. Sie gab mir 15 Sekunden, um diese Frage zu beantworten. Ich hätte ihr auch sagen können, sie soll mir eine Stunde geben, aber ich ging auf die Verknappung ein. Wenn man will, kann man das Album auch so sehen, dass alle Songs, die diesem Intro folgen, Fragen sind, die in diesen 15 Sekunden durch meinen Kopf geschossen sind. Ich wollte das Intro machen, weil es gut zeigt, wie wenig Platz ich mir für Selbstreflexion gebe. Man muss sich aber auch mal konzentrierten, durchatmen und sich die Momente gönnen, um Dinge zu reflektieren.

Das wird oft durch den alltäglichen Stress verhindert. Dem kommt niemand so ganz aus …
Ich bin seit einem Jahr dauerhaft am Arbeiten. Meine beiden Projekte, Live-Termine, die Podcasts, die ich produziere. Ich merke selbst, dass dadurch meine Stresstoleranz steigt, was gefährlich für die körperliche und psychische Gesundheit ist. Andererseits kann ich mich gar nicht mehr entspannen. Wenn ich Phasen habe, wo ich einfach nur zu Hause sitze, chille und „Far Cry 5“ spiele, fühlt sich das falsch an. Ich bin eigentlich schon viel zu weit und brauche dringend Urlaub. Ich muss wieder lernen, mich zu langweilen. Kunst machen bedeutet, dauerhaft kreativ zu sein. Das beginnt bei Social-Media-Portalen, wo du permanent posten und aktiv sein musst. Im weiteren Sinne gewinne ich einen erhöhten Selbstwert durch die Arbeit und Dinge, die ich veröffentliche. Meinem Ego tut das leider gut, obwohl es niemand je von mir gefordert hat.

Das geht im Endeffekt aber wieder auf das Migrationsthema zurück. Ich musste immer zweimal so hart arbeiten, um wahrgenommen und verstanden zu werden. Als Türke hast du es manchmal einfach schwerer, die gleichen Chancen zu haben, wenn du nicht herausstichst. Ich konnte schon lesen, bevor ich überhaupt in die Schule kam, weil das meinen Eltern wichtig war. Eigentlich lebe ich meinen Traum. Ich mache, was ich gerne mache und habe die Ressourcen dafür. Ich bin weder in der Arbeitswelt, noch in der persönlichen von Existenzängsten bedroht, trotzdem habe ich ständig das Gefühl, ich könnte noch mehr machen.

Du solltest jedenfalls auf die Signale hören und sie nicht ignorieren.
Die Signale standen schon mit Tröten neben meinem Ohr. Ich hatte einen Blinddarmdurchbruch und war zwei Stunden vor dem Tod. Schon damals dachte ich, ich hätte mehr auf meinen Körper hören sollen. Ich muss hart daran arbeiten, weniger hart zu arbeiten. (lacht)

Dreimal live in Österreich
Kora Winter kommen mit ihrem neuen Album „Gott segne, Gott bewahre“ am 18. Jänner in den Wiener Viper Room, am 19. Jänner ins Linzer KAPU und am 20. Jänner ins Rockhouse Salzburg. Karten und weitere Informationen finden Sie auf den jeweiligen Homepages.

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