BOKU-Experte erklärt

Saporischschja-Kernschmelze beträfe große Region

Ausland
02.08.2023 14:51

Seit Monaten verdächtigen Russland und die Ukraine einander, gezielt ein Unglück am ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja zu provozieren, entweder durch Beschuss oder durch Verminung. Eine mögliche Kernschmelze hätte wahrscheinlich massive Auswirkungen, die weitere Staaten in Europa betreffen könnten.

Russische Truppen hatten das AKW kurz nach Beginn des Angriffs auf die Ukraine vor 17 Monaten besetzt. Mehrfach geriet die Anlage unter Beschuss, was trotz ihres Herunterfahrens international die Sorge vor einer Atomkatastrophe steigerte. Anfang Juli spitzten sich die Vorwürfe zu. Es hieß, ein Anschlag stehe unmittelbar bevor. Inzwischen hat sich die Lage wieder etwas beruhigt.

Sollte zumindest einer der sechs Reaktoren des 2022 von russischen Truppen besetzten Kernkraftwerks Saporischschja 20 Prozent seines radioaktiven Cäsium-137 in die Umgebung abgeben, müsste angesichts einer Verstrahlung von 1480 Kilobecquerel pro Quadratmeter das Umland des Kraftwerks in einem größeren Radius wahrscheinlich zu einer Sperrzone erklärt werden, erklärte der Leiter des Instituts für Sicherheits- und Risikowissenschaften der BOKU, Nikolaus Müllner, bei einer Pressekonferenz der NGO Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) in Wien.

„Diese Sperrzone würde sehr wahrscheinlich auf die Ukraine beschränkt sein. Aber es könnte mit einer Wahrscheinlichkeit zwischen ein und drei Promille auch Wetterlagen geben, die auch zu einer solchen Kontamination in anderen Ländern führen könnten“, erklärte der österreichische Physiker.

Prognose für Österreich
Zehn Mal schwächere Verstrahlungen mit Cäsium-137, die jedoch Auswirkungen auf die Landwirtschaft hätten und zu einer Verstrahlung von Wildtier und Pilzen führen würden, sind laut Müllners Modellberechnung jedoch in einer sehr viel größeren Region und auch außerhalb der Ukraine deutlich wahrscheinlicher. „Russland wäre dann mit hoher Wahrscheinlichkeit betroffen, auch die Republik Moldau, mit drei Prozent Wahrscheinlichkeit auch ein kleiner Teil Polens, mit ein Prozent Wahrscheinlichkeit die Slowakei, Rumänien, Ungarn und die Tschechische Republik“, erläuterte der Wissenschafter. In Österreich liege die wetterbedingte Wahrscheinlichkeit für eine derartige Verstrahlung bei 0,04 Prozent, sagte er.

Als günstig bewertete der Experte indes den Umstand, dass sich fünf der Reaktoren in Saporischschja im Zustand der Kaltabschaltung und ein Reaktor im Zustand einer heißen Abschaltung befänden. „Das bedeutet, dass man bis zu 15 oder 20 Tage Zeit hätte zu intervenieren, so es ein Problem in einem Reaktor gibt“, schilderte er. Dennoch könne nicht ausgeschlossen werden, dass bei Kriegshandlungen vor Ort ein Krisenmanagement nicht möglich sein und eine Kernschmelze deshalb nicht vermieden werden könnte.

AKW-Zerstörung für niemanden von Nutzen
Bei seinen Erwägungen mit Hilfe von Wetterdaten von 1999 bis 2009 ging der Physiker davon aus, dass eine Beschädigung des Kernkraftwerks als Kollateralschaden von Kampfhandlungen eine wahrscheinlichere Variante wäre. Eine bewusste Zerstörung, etwa durch Raketenbeschuss, wurde als Szenario nicht berücksichtigt. Diese militärische Risikoeinschätzung sei vom ABC Abwehrzentrum des österreichischen Bundesheers vorgenommen worden, begründete Müllner. „Sie gehen davon aus, dass die Zerstörung eines Kernkraftwerks für keine der Kriegsparteien von Nutzen ist“, sagte er. Die Annahme eines Austritts von 20 Prozent des radioaktiven Cäsium-137 aus einem Reaktor entspreche einem konventionellen, größeren Unfall im Normalbetrieb.

Kritik an internationaler Gemeinschaft
Die NGO Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), die die BOKU-Studie in Auftrag gegeben hat, übte am Mittwoch indes deutliche Kritik an der internationalen Gemeinschaft. Gerade auch Staaten, die die friedliche Nutzung von Kernenergie stark unterstützen, hätten sich bisher nicht dazu durchgerungen, Attacken auf Kernkraftwerke in Kriegszeiten als generell inakzeptabel zu erklären, und dieser Umstand entbehre dabei nicht einer gewissen Ironie, sagte IPPNW-Programmdirektor Charles K. Johnson. „Denn diese Inaktivität bedroht die Zukunft der Kernenergie, weil eine weitere Nuklearkatastrophe die Bereitschaft aller Länder reduzieren wird, derart verletzbare Anlagen ohne ein klares internationales Übereinkommen zum Verbot von Attacken bei sich zu beherbergen“, sagte Johnson, der für seine NGO zum Vorbereitungskomitee für die aktuelle Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags nach Wien gekommen war.

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