Ängste und Gedanken

Dokumente geben Einblicke in Bin Ladens Leben

Ausland
20.05.2015 16:22
Bis zum Schluss wollte er die USA mit einer neuen, groß angelegten Attacke aus der muslimischen Welt vertreiben: Vier Jahre nach der Tötung von Al-Kaida-Chef Osama bin Laden haben die US-Geheimdienste am Mittwoch mehr als 100 Dokumente freigegeben, die überraschende Einblicke in seinen Gemütszustand und seine Ziele gewähren und tiefe Risse in dem Terrornetzwerk zeigen.

Die US-Spezialeinheit Navy Seals hatte bei ihrem Zugriff im pakistanischen Abbottabad am 2. Mai 2011 Tausende Dokumente gefunden. Auf richterliche Anordnung wurden über 100 der Schriftstücke nun freigegeben. Dies habe nichts damit zu tun, dass der Journalist Seymour Hersh die offiziellen Angaben über die Ergreifung und Tötung Bin Ladens kürzlich infrage gestellt habe, sagte CIA-Sprecher Ryan Trapani.

In einem Dokument heißt es, der Fokus der Al-Kaida-Aktivitäten "sollte darauf liegen, die US-Bevölkerung und ihre Vertreter zu ermorden und zu bekämpfen". Die einzige Möglichkeit, die US-Außenpolitik zu beeinflussen, seien Angriffe, schreibt Bin Laden an anderer Stelle. Dadurch sollten die USA gezwungen werden, "die Muslime in Ruhe zu lassen".

Die Angst, von US-Spionen in seiner Villa entdeckt zu werden, trieb den aus Saudi-Arabien stammenden Bin Laden zu äußerster Vorsicht. So gab er an seine Familie und sein Umfeld die Anweisung: "Unsere Sicherheitssituation erlaubt es nicht, zu Ärzten zu gehen. Also gebt acht auf Eure medizinischen Bedürfnisse, vor allem Eure Zähne."

Als seine Frau Umm Hamza von einer Iran-Reise zurückkehrte, musste sie ihre komplette Kleidung wechseln, aus Angst, es könnte eine Wanze darin versteckt sein. "Da den Iranern nicht vertraut werden kann, könnte ein Chip in Deine Sachen implantiert worden sein." Ärger rief Bin Laden mit seinem Verbot an seine Adjutanten hervor, per E-Mail zu kommunizieren.

Streit über strategische Ausrichtung der Al-Kaida
Doch auch über die strategische Ausrichtung der Al-Kaida wurde heftig gestritten. So forderte Bin Laden, die Terrorattacken sollten sich auf den größten Feind, also die USA, konzentrieren: "Wir sollten Einsätze gegen die Armee und Polizei in allen Regionen stoppen, außer im Jemen", schrieb er. Darin zeige sich seine Sorge, "eine Uneinigkeit des globalen Dschihads könnte den Niedergang der Bewegung einleiten", mutmaßt ein ranghoher US-Geheimdienstanalyst.

Dass die Organisation Al-Kaida im Irak, ein Vorläufer der Miliz Islamischer Staat, im Irak einen Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten anheizte, brachte Bin Laden und seinem damaligen Vize Ayman al-Zawahiri scharfe Kritik ein. Dass Bin Laden die in seinem Namen angerichteten "Skandale" und das Blutvergießen nicht verurteile, dafür werde er von Gott zur Rechenschaft gezogen werden, schrieb die Gruppe Dschihad- und Reformfront in einem Brief von 2007. "Wenn Du es noch kannst, ist es Deine letzte Chance, den Zusammenbruch des Dschihad im Irak aufzuhalten." Heute hat der IS Al-Kaida in den Schatten gestellt.

"Müssen uns darauf konzentrieren, Amerikaner zu töten"
Sein schwindender Einfluss zeigte sich auch in taktischen Differenzen. So warb Bin Laden in den Dokumenten bis zu seinem Tod für groß angelegte Terrorattacken. In einem Schreiben äußert er seinen Frust über gescheiterte Terroranschläge. "Es war Pech, und Gott war nicht auf unserer Seite", heißt es im "Bericht über äußere Operationen". Unter den Zielen sind Russland, wo dem Brief zufolge eine Gasleitung oder die US-Botschaft explodieren sollten, sowie Großbritannien und Amerikaner in Dänemark. Dorthin sei eine Gruppe von "drei Brüdern" geschickt worden, um eine "Operation" durchzuführen. Der Kontakt sei aber abgerissen. Bin Laden ruft dazu auf, neben Gas- und Diesel-Tanks auch Flugzeuge, Züge und Autos als "Tötungswerkzeuge" einzusetzen.

"Wir müssen uns darauf konzentrieren, Amerikaner zu töten und zu bekämpfen", heißt es in einem der Briefe des Terrorchefs. Die USA bezeichnet er als "Führer der Ungläubigen" und den Sieg über die Vereinigten Staaten als "zwingende religiöse Pflicht". In Afghanistan müssten hundertmal mehr Amerikaner sterben, um die Zahl der US-Todesopfer des Vietnamkriegs zu erreichen.

Einige seiner Stellvertreter fanden dies hingegen angesichts der permanenten Gefahr durch US-Drohnen zu schwer zu organisieren. In einem schon vor Kurzem freigegebenen Dokument aus der damaligen Zeit wird Al-Kaida-Veteran Abu Mussab al-Suri mit der Haltung zitiert, kleinere Anschläge seien der bessere Ansatz. Er setzte sich mit seinem Konzept des "individuellen Dschihads" durch: Nach Bin Ladens Tod rief die neue Al-Kaida-Führung ihre Anhänger auf, als Einzelkämpfer Anschläge zu verüben.

Bin Laden besaß Verschwörungsliteratur
Unter den freigegebenen Dokumenten befinden sich auch Bücherlisten, die offenbaren, mit welcher Art von Literatur der Terrorchef sich umgab: Bin Laden besaß ein Buch über Verschwörungstheorien rund um die Anschläge vom 11. September 2001 sowie über die Illuminaten. Auch der Abschlussbericht der Kommission zur Untersuchung der 9/11-Anschläge zählt zu Bin Ladens Bestand. Er besaß zudem ein Buch von "Washington Post"-Reporter Bob Woodward über die Kriege von US-Präsident Barack Obama sowie ein Werk des Sprachphilosophen und Begründers der modernen Linguistik, Noam Chomsky.

Selbst ein Handbuch zum 2009 erschienen Videospiel "Delta Force Extreme 2", eine Anleitung für Siebdruck-Techniken, ein Guinness-Buch der Rekorde für Kinder und ein Handbuch für arabische Kalligraphie fanden die Soldaten. Möglicherweise wurden diese Werke allerdings von anderen Bewohnern des Verstecks in Pakistan genutzt.

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