Album „Lives Outgrown“

Beth Gibbons: Absprung vom Kokon des Leidens

Musik
16.05.2024 09:00

Zehn Jahre lang hat Portishead-Drittel Beth Gibbons an ihrem offiziellen Solodebüt „Lives Outgrown“ gearbeitet. Herausgekommen ist ein Album voll schräger Momente, musikalische Experimente und persönlicher Emotionsbewältigungen. Noch nie fühlte sich der Frühling so herbstlich an.

(Bild: kmm)

Live gerne mit dem Rücken zum Publikum stehend, Interviews so gut es geht vermeidend und sich permanent aus der Öffentlichkeit ziehend. So hat man Beth Gibbons lieben und schätzen gelernt. Einem jener alternativen, popkulturellen Superstars, dem Celebrity-Kult und das Rampenlicht mindestens genauso sauer aufstoßen wie emotionslose Songs. Vor exakt 30 Jahren schrieben Gibbons und ihre beiden Partner Adrian Utley und Geoff Barrow Musikgeschichte. Mit ihrer Band Portishead veröffentlichten sie das Debütwerk „Dummy“, das der aufkeimenden Trip-Hop-Szene aus Bristol einen ersten und kaum noch zu überbietenden Höhepunkt bescheren sollte. Massive Attack, Tricky und Co. arbeiteten sich mit teils grandiosen Songs an die Spitze des chilligen Subgenres, aber die in ihrer Kompaktheit nicht zu schlagende Genialität dieser Scheibe bliebt in unerreichbaren Sphären.

Schräge Projekte
Portishead nahmen noch weitere Kultalben auf, verloren mit den Jahren aber die Lust am gemeinsamen Musizieren. Große Rücktrittsansprachen oder klare Messages gab es nicht, mit wenigen, meist auf Benefiz-Events beruhenden Ausnahmen, verkroch sich das legendäre Trio vor acht Jahren in den Winterschlaf, den sie zur kollektiven Energiegewinnung noch immer zu tätigen pflegen. Im Juni 2013 hat Gibbons in einem Statement erstmals darauf hingewiesen, über das Feinschmecker-Label Domino Records ein Soloalbum veröffentlichen zu wollen. Eine Art Soloalbum veröffentlichte sie schon 2002 mit Talk Talks Paul Webb aka Rustin Man. „Out Of Season“ hatte mit Portishead nichts am Hut und war mit seiner jazz-folkigen Herangehensweise eher eine Hommage an Nina Simone, Joni Mitchell oder Nick Drake. Es folgten zahlreiche Film-Scores, eine abgedrehte Version des ABBA-Klassikers „SOS“, das kurioserweise auf Polnisch eingesungene Orchesteralbum „Henryk Górecki: Symphony No. 3 (Symphony Of Sorrowful Songs)“ und ein Überraschungsauftritt im Song „Mother I Sober“ von Kendrick Lamar.

Die Rolle als schräge Tante im alternativen Pop-Segment hat die 59-Jährige über die Jahre perfektioniert. Da verwundert es auch wenig, dass der hie und da getätigte Ruf als „britische Björk“ sich durchaus auch auf dem ersten richtigen Soloalbum „Lives Outgrown“ niederschlägt. Ganze elf Jahre nach der Ankündigung erscheint das Werk jetzt tatsächlich und konterkariert jedwede Portishead-Nostalgiehoffnung mit selbstbewusst kompositorischer Chuzpe. Gibbons legt sich quer und erschafft ein zehn Kapitel starkes Musikuniversum, das sich gegen alle Selbstverständlichkeiten strömt. Die Songs sind überlang und nicht Streaming-tauglich. Die emotionale Stimmung erinnert an einen gefühlsbetonten Wintereinbruch, während das Album nun kurz vor dem Sommerbeginn das Licht der Welt erblickt. Anstatt sich zumindest bei den Singles an einer gewissen Nachvollziehbarkeit der Songs zu bedienen, rutscht Gibbons mit Anlauf ins Verquere und suhlt sich darin mit Freuden.

Kunst aus Traurigkeit
Gut zehn Jahre hat die Künstlerin für die Zusammenstellung der Songs gebraucht. Das liegt weniger am Instrumentalen, sondern vielmehr an den unterschiedlichen, durchaus dunklen Erfahrungen und Erlebnissen, die sie als Inspiration für das Werk sammeln musste. Es geht um viele Abschiede, um Todesfälle und um radikale Lebensveränderungen, wie wir sie alle immer wieder erfahren müssen, während sich das Rad der Zeit weiterdreht. „Ich habe erkannt, wie das Leben ohne Hoffnung ist“, lässt sie sich zur Album-Veröffentlichung zitieren, „und das war eine Traurigkeit, die ich noch nie gespürt hatte. Früher hatte ich die Möglichkeit, meine Zukunft zu lindern, aber wenn man gegen seinen Körper ankämpft, kann man ihn nicht zu etwas zwingen, was er nicht will.“ Die Songs auf „Lives Outgrown“ sind tatsächlich wie eine physische Erfahrung. Man spürt den Schmerz im folkloristischen „Oceans“, trägt die Schwere von „Burden Of Life“ mit und würde bei „Rewind“ gerne selbst zurückspulen, um Entscheidungen anders oder gleich besser zu treffen.

In den bleischweren Liedern geht es um Mutterschaft, um diverse Ängste und um die Wechseljahre, die Gibbons vor allem menschlich fast in die Knie gezwungen hätten. Die Gewichtigkeit von Songs wie dem emotionalen Opener „Tell Me Who You Are Today“ oder dem eindringlichen „Reaching Out“ wirken wie ein Manifest der Verzweiflung. Ein in Ton gegossener Kampf gegen die Unvermeidlichkeit des Alterns, dem sich manche eben schwerer als andere entgegenstellen müssen. „Es sind Lieder aus der Mitte des Lebens, wenn der Blick nach vorne nicht mehr so viel hergibt wie früher, und der Blick zurück plötzlich schärfer wird.“ Mit dem Ende von geliebten Menschen und persönlichen Lebensphasen ergab sich ganz automatisch das Gefühl nach einem neuen Beginn. „Man denkt: Wir werden das schon überstehen. Es wird besser werden. Manches Ende ist schwer zu verdauen.“ Das sind auch einige der Lieder auf „Lives Outgrow“, die man als klang gewordenes Gegenstück von Beliebigkeit bezeichnen kann.

Alles, nur nicht normal
Gearbeitet hat Gibbons dieses Mal mit einem anderen Talk Talk-Mitglied, nämlich Drummer Lee Harris. Der hat sich aber nicht nur auf sein standardisiertes Repertoire fokussiert, sondern auf Anweisung der Chefin auf alles eingedroschen, was die unmittelbare Umgebung so hergab. Holzschubladen, Pappkartons, Tupperware oder mit Erbsen gefüllte Dosen. Ein Schlagzeugset, bestehend aus einer Kiste voller Gardinen und einer Wasserflasche aus Kuhfell, die als Snare diente. Produzent James Ford, der Dritte im Kreativitätsbunde, zeigte sich ähnlich offen und setzte sich für den Album-Opener schon einmal ins (!) Klavier, um dort mit Löffeln auf die Saiten zu schlagen. Hackbrett, Laute und Blockflöten waren ebenso erlaubt und erwünscht. Heraus kommt das vielleicht mysteriöseste Album des Jahres, dessen Schönheit aber nur für jene erstrahlt, die Geduld aufbringen und um die Ecke denken können. „Lives Outgrown“ ist ein Meisterwerk schräger Tonalität.

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