Robert Slepicka:

„Ich bin dort daheim, wo der Ofen brennt“

Vorarlberg
20.08.2023 17:25

Robert Slepicka kennen viele noch als langjährigen Obmann des Vorarlberger Alpenvereins. Dabei ist der überaus rüstige 86-Jährige eigentlich ein gebürtiger „Flachländler“.

Ein sehr agil wirkender, alter Herr öffnet mir die Wohnungstür und führt mich freundlich in ein kühles, abgedunkeltes Wohnzimmer, wo auf dem Tisch schon ein Kuchengedeck aufgelegt ist. „Wenn es so heiß ist wie jetzt, lüften wir nachts und lassen am Morgen in der Früh gleich die Rollläden runter“, sagt Robert Slepicka. Sogleich entschuldigt er sich, dass seine Frau mit ein paar Freundinnen ausgegangen ist. Sie habe aber Kuchen gebacken. Was ich trinken möchte. Der Herr Slepicka eilt in die Küche, holt Holundersaft. Dann bringt er eine selbstgemachte Roulade und Marillenkuchen. Und nebenbei beginnt er ganz von sich aus die Geschichte seines Großvaters zu erzählen. Im Verlauf des Gesprächs staune ich immer wieder über das Gedächtnis dieses 86-jährigen Mannes, wie er Namen und Geschichten aus längst vergangenen Tagen so präsent hat, als hätte sich alles erst gestern zugetragen.

„Mein Großvater ist 1872 geboren, war Kutscher von Beruf und stammte aus Protiwin in Böhmen. Um das Jahr 1890 muss er nach Wiener Neustadt verzogen sein, weil er Arbeit suchte. Er hatte elf Kinder. Mein Vater war das Jüngste. Die Mutter starb im Jahr 1917 an Hunger-Typhus. Da war mein Vater sechs Jahre alt.“

Robert Schneider: Sie können sich noch an Ihren Großvater erinnern? 
Robert Slepicka: Ganz gut sogar. Er hat nie viel geredet. Mit Kindern konnte er nicht sonderlich viel anfangen. Erst später, als ich sieben oder acht Jahre alt war, musste ich ihm, wenn wir Neujahr anwünschen gingen, auf der Zither den Erzherzog-Johann-Jodler vorspielen. Dann hat er mir eine Zwei-Schilling-Münze aus Aluminium gegeben und gesagt: „Spül’s no amol!“

Sie sind in Wiener Neustadt geboren. Was haben Ihre Eltern gemacht? 
Mein Vater war Malermeister und meine Mutter Köchin bei den wohlhabenden Juden in den Villen von Baden bei Wien. Sie hat oft die Stellung gewechselt, weil sie so gut kochen konnte. Jeder wollte sie haben.

Wie viele Kinder gab es in der Familie? 
Ich bin ein Einzelkind. 1937 haben meine Eltern geheiratet, 1940 musste mein Vater an die Front. Er ist nie mehr auf Heimaturlaub gekommen, sonst hätte ich bestimmt noch ein Geschwisterchen gehabt, denn er ist schon 1941 in Estland gefallen. Da war ich dreieinhalb Jahre alt, weshalb ich mich auch gar nicht an ihn erinnern kann.

Wo sind Sie zur Schule gegangen? 
Aufgewachsen und zur Schule gegangen bin ich in Retz, denn ganz Wiener Neustadt war ja ein Trümmerfeld. 58.000 Bomben sind auf Wiener Neustadt gefallen. Nur noch achtzehn Häuser waren bewohnbar. Die Straße, wo mein Elternhaus stand, wurde dem Erdboden gleich gemacht. Nun hatten wir aber Glück. Das Haus, in dem meine Mutter und ich wohnten, gehörte reichen Weinbauern aus Retz. Die Bäuerin sagte: „Kommt doch zu uns. Da ist keine Industrie. Da fallen keine Bomben.“ Ich werde nie vergessen, wie meine Mutter haderte, von Wiener Neustadt wegzugehen. Eines Abends schrieb sie Zettelchen, auf denen abwechselnd Retz und Wiener Neustadt stand. Die warf sie in den Hut meines Vaters und rührte die Schnipsel durcheinander. Beide zogen wir einen Zettel mit der Aufschrift Retz. Am anderen Morgen um halb acht verließen wir das Haus. Um elf Uhr existierte die ganze Wohnstraße nicht mehr.

Wie kamen Sie nach Vorarlberg? 
Da war ich vierzehn Jahre alt. Meine Mutter dachte, dass die Sowjets aus der russischen Zone eine Art zweite DDR machen wollten. Da sagte sie zu mir: „Ich bin Kriegswitwe, ausgebombt, aber Kommunistin werde ich bestimmt nicht. Auf in den Westen!“ Durch einen Bekannten erhielt sie eine Adresse in Beschling. Mir gefiel es dort sofort. Die Berge, die Wälder. Dann standen unsere Habseligkeiten in Nenzing am Bahnhof, und wir mussten eine Bleibe suchen. Meine Mutter war eine richtige Powerfrau, wie man heute sagen würde. Ohne lange zu überlegen drückte sie dem Briefträger einen Hunderter in die Hand, was damals viel Geld war, und sagte: „Wenn Sie mir eine Wohnung finden, kriegen Sie noch einmal hundert Schilling.“ Auf diese Idee musste man erst einmal kommen, denn ein Briefträger geht ja in jedes Haus. Schon zwei Tage später hatten wir eine Wohnung in der Bahnhofstraße in Nenzing. Meine Mutter wurde dann Krankenschwester in Hohenems. Später ersparte sie sich eine Eigentumswohnung in Dornbirn.

Robert Slepicka mit seiner Mutter, die noch hoch in Ehren hält: „Meine Mutter war eine richtige Powerfrau, wie man heute sagen würde.“ (Bild: mathis.studio)
Robert Slepicka mit seiner Mutter, die noch hoch in Ehren hält: „Meine Mutter war eine richtige Powerfrau, wie man heute sagen würde.“

Was haben Sie gelernt? 
Ich habe die Handelsschule gemacht. Bin vom Typ her mehr ein Verwaltungsmensch. Habe in der Valduna in Rankweil in der Verwaltung gearbeitet. Später in Rankweil als Sachbearbeiter für Kindergärten und Schulen.

Wie war das damals kurz nach dem Krieg als sogenannter „Zugeraster“? 
Der Anfang war furchtbar. Oft habe ich gehört, man sollte den Arlberg zumauern und die Wiener erst gar nicht reinlassen. Ich hatte an sich nie Heimweh. Aber damals habe ich geweint. Es gab nur eine Rettung. Ich habe so schnell wie nur irgendwie möglich den Vorarlberger Dialekt gelernt. Erst als ich Dialekt reden konnte, wurde ich akzeptiert, konnte mich integriert fühlen. Wer nicht Dialekt sprach, war ein Mensch dritter Klasse. Als meine Mutter und ich in Nenzing einzogen, kam schon am zweiten Tag der Gemeindediener vorbei, hielt meiner Mutter einen Schrieb unter die Nase, den sie unterschreiben musste. Darin musste sie versichern, dass sie und ihr Sohn der Gemeinde nie zur Last fallen werden. Das hat meine Mutter den Nenzingern nie verziehen.

Ihre Frau stammt aus Südtirol. Gemeinsam haben Sie zwei Buben großgezogen. Sind Sie jetzt ein Vorarlberger geworden? 
Ich bin dort daheim, wo der Ofen brennt. Zehn Jahre lang war ich Landesobmann des Alpenvereins. Da habe ich schon alle möglichen Leute kennengelernt und mich weiß Gott integriert. Außerdem war ich noch zehn Jahre lang Obmann des Südtirolerverbands.

Aber Ihren Wiener Dialekt haben Sie nie verlernt. 
Nein, der ist geblieben. Aber ich spreche beide Dialekte perfekt.

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