Vorarlberg spricht

„Minderheiten müssen mitgenommen werden“

Vorarlberg
09.01.2022 06:45

Vor einem Jahr fiel das Urteil von Michael Diettrich zur Coronapolitik nicht gerade rosig aus. Und in den vergangenen zwölf Monaten hat sich das für den Sprecher der Armutskonferenz nicht geändert.

„Krone“: Das vergangene Jahr war recht ereignisreich. Welches Thema hat für Sie besondere Bedeutung gehabt?
Michael Diettrich: Schon vor einem Jahr habe ich gesagt, dass ich es problematisch finde, wenn in Sachen Corona vorwiegend auf Angstmache gesetzt wird. Da kommt es irgendwann zu einer Abstumpfung oder zum Widerstand. Genau das ist nun passiert. Diese Zuspitzung und diese aufgeladene Stimmung, das ist viel problematischer als das Virus. Das macht mir am meisten Sorgen.

„Krone“: Sie führen diese Stimmung in der Bevölkerung also auf die angsteinflößenden politischen Äußerungen zurück?
Diettrich: Viele sagen ja, dass die Bundesregierung nicht auf die Experten gehört hätte. Das ist aber nur zum Teil richtig. Denn auch von den Experten habe ich Aussagen vernommen, die sich als nicht richtig erwiesen haben. Auf der anderen Seite gab es auch Experten, die gemeint haben, wir würden mit dem Virus leben lernen müssen. Damals hat man ihnen dafür den Kopf abgerissen - heute meint das sogar der Bundeskanzler. Schon letztes Jahr sagte ich, dass man sich nicht nur auf die Impfung verlassen darf. Obwohl ich sehr froh war, dass es so schnell eine Impfung gab, die mich vor einer schweren Erkrankung weitreichend schützt. Ich selbst bin auch dreimal geimpft. Wenn aber gesagt wird, dass Corona nun eine Pandemie der Ungeimpften sei, dann ist das grob fahrlässig. Die Geimpften wiegen sich in falscher Sicherheit, auch sie können sich und andere infizieren. Mich ärgert es, dass behauptet wird, man könne sich nur aus der Pandemie herausimpfen, obwohl die Impfung nicht vor der Infektion schützt. Wir werden auch im nächsten Herbst wieder mit Corona zu tun haben und uns überlegen müssen, wie wir uns schützen. Irgendwann wird Corona sein wie die Grippe, wir wissen nur noch nicht wann. Das Problematische sind die vielen Infos, die sich als falsch herausstellen - das erschüttert das Vertrauen in die Politik.

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Mich ärgert es, dass behauptet wird, man könne sich nur aus der Pandemie herausimpfen, obwohl die Impfung nicht vor der Infektion schützt.

Michael Diettrich

„Krone“: Aber ist es nicht gar nicht anders möglich, als sich in einer so neuen Sache immer wieder auch zu irren?
Diettrich: Ja, natürlich. Aber im Zuge der Pandemie kamen Experten zu Wort, bei denen man sich schon fragte, wieso die jetzt in den Expertenstatus aufgestiegen sind. Ein guter Experte ist jemand, der auch sagt: „Das weiß man noch nicht.“ Und wer jetzt schon wieder einen Tsunami voraussagt, der soll doch bitte in die Erdbebenforschung gehen, aber keine Ratschläge erteilen. Es ist doch klar, dass man nicht immer alles weiß. Aber man sollte das eben auch sagen.

„Krone“: Die vielen absoluten Aussagen waren also schädlich?
Diettrich: Ja, zudem hat man nur jene Experten zu Wort kommen lassen, die ins politische Bild gepasst haben. Wissenschaft ist ein Austausch über unterschiedliche Erkenntnisse. Erst daraus entsteht Wissen. Das ist aber völlig untergegangen, da kritisiere ich auch die Medien. Viele der Experten, die zu Wort kamen, waren überhaupt keine. Das hätten die Medien besser prüfen müssen. Man hätte ja auch mal thematisieren können, dass ein Großteil der Prognosen unserer Modellrechner nicht gestimmt hat. Auch hier im Land gab es wirkliche Experten, die hervorragende Einschätzungen der Lage parat hatten, aber auf die hat man nicht gehört. Es war schon länger klar, dass die Pandemie nicht einfach vorbei ist. Da muss man sich eben darauf vorbereiten, etwa die Ausstattung auf den Intensivstationen angemessen gewährleisten. Aber im Landesbudget für 2021 gab es keine einzige zusätzliche Personalstelle für die Spitäler. Im Laufe des Jahres wurde dann ein wenig nachgebessert, aber das Pflegeproblem ist ja schon länger bekannt. Da sollte man endlich etwas tun, nicht nur reden.

„Krone“: Und warum wird nicht gehandelt?
Diettrich: Dass das so ist, macht mich fassungslos. Es hieß doch „Koste es, was es wolle“. Da ging es aber offenbar nur um Wirtschaftshilfen. Landeshauptmann Markus Wallner hat ja nach der Kritik des Landesrechnungshofs an der Verschuldung auch schon angekündigt, im Spitalswesen und beim Sozialfonds sparen zu wollen. 80 Prozent der Gesundheitskosten fließen zu den alten und chronisch kranken Menschen. 40 Prozent des Sozialfonds wandern in die stationäre Pflege. Das sind Bereiche, die schon vor der Pandemie problematisch waren - und das werden sie auch nach der Pandemie noch sein.

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Man kann ja derzeit kaum jemanden empfehlen, einen Pflegeberuf anzunehmen. Man muss da einfach mehr Gehalt bezahlen.

Michael Diettrich

„Krone“: Man könnte meinen, es sei klar, was zu tun ist.
Diettrich: Man kann derzeit kaum jemanden empfehlen, einen Pflegeberuf anzunehmen. Man muss da einfach mehr Gehalt zahlen. Nur so wird man den Mitarbeitermangel beheben und die Arbeitsbedingungen verbessern können. In der Schweiz und in Bayern sollen die Gehälter jetzt steigen, in Vorarlberg redet der Landeshauptmann vom Sparen.

„Krone“: Was halten Sie von der Impfpflicht?
Diettrich: Das ist nicht der richtige Weg. Bei der Impfung hätte man sich zielgerichtet an Menschen wie mich wenden sollen - in meinem Alter. Und Menschen mit Vorerkrankungen. Zudem hätte man viel deutlicher sagen müssen, was eigentlich eine Vorerkrankung ist: Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes etwa. Viele wissen das ja überhaupt nicht. Wenn man die Impflücke bei den Gefährdeten schließt, haben wir auch weniger Probleme auf den Intensivstationen. Und man sollte aufhören, Kindern und ihren Eltern Angst einzujagen. Kinder erkranken sehr selten schwer. Wir haben mehr Kinder wegen der Schutzmaßnahmen in der Psychiatrie als wegen des Virus auf der Intensivstation. Wenn man die Übertragung von Kindern auf Erwachsene verhindern will, dann müssen sich die Erwachsenen schützen.

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Man hätte sagen sollen, das man die Impfung überschätzt hat. Damit hätte man vielleicht auch wieder ein Stück Vertrauen zurückgewonnen.

Michael Diettrich

„Krone“: Was ist die Alternative zur Impfpflicht?
Diettrich: Man hätte den Menschen ehrlich sagen müssen, dass die Pandemie im Herbst und im Winter wieder Thema werden wird und dazu aufrufen sollen, bei engen Kontakten Masken zu tragen. Man hätte auch viel früher mit dem Boostern bei älteren Menschen anfangen sollen. Und es wäre notwendig gewesen, zuzugeben, dass die Impfung überschätzt wurde. Damit hätte man vielleicht auch wieder ein Stück Vertrauen zurückgewonnen.

„Krone“: Was hat sich Ihnen durch Corona bisher gezeigt?
Diettrich: Wir haben uns angewöhnt, ständig einen Sündenbock parat zu haben: die Flüchtlinge, die Arbeitslosen, jetzt die Ungeimpften. Davon müssen wir wegkommen. Covid hat uns gezeigt, dass es in einer Demokratie nicht nur auf die Mehrheit ankommt. Auch die Minderheiten muss man mitnehmen.

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