Das große Interview

Wie lange halten wir durch, Herr Bundespräsident?

Österreich
14.03.2021 15:10

Ein Jahr Lockdown: Bundespräsident Alexander Van der Bellen spricht mit Conny Bischofberger über ein schwieriges Jahr und die Durststrecke bis zum Sommer, nimmt zu den Corona-Demos Stellung und gibt Tipps gegen den Groll.

In der U-Bahn zum Ballhausplatz ertönt plötzlich seine Stimme. „Liebe Fahrgäste, hier spricht Alexander Van der Bellen. Ich wollte mich heute einfach einmal bei ihnen bedanken. Es ist ja derzeit alles nicht so einfach.“ Ungläubige, erstaunte, lächelnde Gesichter. Dass Passagiere vom Staatsoberhaupt dafür gelobt werden, dass sie Maske tragen und Abstand halten, was in der U-Bahn fast unmöglich ist, tut gut. Und sorgt für Gesprächsstoff. Ein Jugendlicher erzählt seinem Freund, dass er Van der Bellen unlängst in der Bank gesehen hat, beim Kontoauszugs-Automat. Und ihn gefragt habe, ob er wirklich der Bundespräsident sei. „Sicher“, habe Van der Bellen geantwortet und dann hätten sie gelacht und ein Selfie gemacht.

Vor genau einem Jahr, zu Beginn des ersten Lockdowns, sprach Alexander Van der Bellen mit der „Krone“ über die großen Veränderungen, die die Pandemie mit sich bringen würde. Damals ahnte niemand, dass Corona das viel gerühmte Österreich so lange in die Knie zwingen würde. Heute ist die Stimmung im Land am Tiefpunkt.

Der Bundespräsident trägt eine eisblaue Grenadine zum dunklen Anzug. Er spricht mit ruhiger Stimme und hebt trotz aller Schwierigkeiten immer wieder das Positive hervor. Die Spätnachmittagssonne taucht den Raum in ein helles, mildes Licht.

„Krone“: Herr Bundespräsident, vor einem Jahr haben Sie an dieser Stelle Besonnenheit und Disziplin eingemahnt. Beides fällt den Menschen mittlerweile sehr schwer. Haben Sie Verständnis dafür, dass viele „pandemüde“ sind?
Alexander Van der Bellen: Ja sicher, das geht mir auch so. Ein Jahr ist schon eine verdammt lange Zeit. Woran erinnert man sich im Rückblick? Eigentlich an den schönen Sommer. Da haben wir geglaubt, das Ärgste sei vorbei, um im Herbst eines Besseren belehrt zu werden. Die meisten Toten hatten wir dann Ende des letzten Jahres. Natürlich war es eine schreckliche Zeit für sehr viele von uns, vor allem für jene, die Angehörige verloren haben. Trotzdem ist nicht alles dunkel. Im Laufe eines einzigen Jahres ist es auch gelungen, mehrere Impfstoffe zu entwickeln.

Trotzdem steigt der Aggressionslevel im Land. An manchen Wochenenden demonstrieren Tausende gegen die Einschränkungen und oft auch, ohne die Corona-Regeln einzuhalten. Bereitet Ihnen das Sorgen?
Wenn ich mir anschaue, wie diese Demonstrationen ausgegangen sind: Ja. Wir haben in Österreich einerseits verfassungsrechtlich abgesicherte Grund- und Freiheitsrechte. Eines davon ist die Versammlungsfreiheit. Auf der anderen Seite steht das Recht auf Gesundheit. Das heißt, wir haben einen Grundrechts-Konflikt. Die Frage ist: Geben wir ein bisschen was her vom einen Recht, um das andere Recht zu wahren? Diesen Konflikt müssen wir alle aushalten und im Ernstfall entscheidet der Verfassungsgerichtshof. Ich verstehe schon, dass manche Menschen mit dieser Gewichtung zugunsten des Rechts auf Gesundheit nicht einverstanden sind. Trotzdem müssen alle die Regeln einhalten. Wenn das nicht der Fall ist, muss die Polizei einschreiten. Ich habe tiefen Respekt vor den Polizistinnen und Polizisten, auch vor dem Polizeipräsidenten von Wien und letztlich dem Innenminister.

Soll auch der ehemalige Innenminister bestraft werden können? Herbert Kickl wurde wie Tausende andere Demonstrationsteilnehmer angezeigt.
Wenn das so ist, muss wie bei jedem anderen Abgeordneten das Parlament gefragt werden, ob es einer sogenannten Verfolgung zustimmt. Er ist jedenfalls ein Demonstrant wie jeder andere und er hat sich genauso an die Regeln zu halten.

Österreich hat im Gegensatz zu Deutschland Lockerungsschritte gewagt. Seither gehen die Infektionszahlen nach oben. War das rückblickend gesehen richtig?
Im Nachhinein sind wir immer viel gescheiter. - Lacht. - Ich möchte noch etwas zum Aggressionslevel sagen. Dieser Level ist nicht überall gleich. Ich habe vor Kurzem mit dem italienischen Präsidenten Mattarella telefoniert, der mir gesagt hat, dass das in Italien anders ist. Vielleicht deswegen, weil der Schock von Bergamo, wo wir die Leichenwagen gesehen haben, noch tief sitzt. Deshalb verstehe ich den Unmut vieler Menschen nicht ganz: Kennt nicht jede und jeder mittlerweile jemanden aus seinem Bekanntenkreis, der schwer krank geworden ist oder an Corona gestorben ist? Also ich schon.

Und die Lockerungsschritte?
Ja, zurück zu Ihrer Frage, ob die Lockerungsschritte richtig waren. Natürlich ist die 7-Tage-Inzidenz zu hoch, keine Frage. Trotzdem habe ich Verständnis für die Schritte. Den Handel und die Schulen aufzusperren war wichtig. Gerade für Kinder und Jugendliche ist die Schule essenziell. Nicht nur, was das Lernen betrifft, sondern damit sie Freunde und Freundinnen treffen, sich mit jemandem austauschen können, einfach wieder einen Tagesrhythmus haben, der Mutter oder dem Vater nicht auf die Nerven gehen, weil sie das Eingesperrt sein nicht mehr aushalten.

Die Infektionszahlen steigen, die Impfungen gehen nur schleppend voran, und viele zweifeln daran, dass zu Ostern die Gastronomie wieder öffnen könnte. Glauben Sie es?
Es wäre schön. Es ist ein Wettlauf zwischen Impfen und der britischen Virusmutante. Mit Sicherheit kann das niemand sagen, aber je schneller die Engpässe bei der Impfstofflieferung überwunden werden können, desto eher wird es möglich sein.

Der Bundeskanzler hat die EU scharf kritisiert, weil die Verteilung der Impfstoffe offenbar nicht wie vorgesehen abgelaufen ist. Hat sie versagt?
Ich war bei den Verhandlungen nicht dabei. Was ich allerdings sehe: Fast jedes Land sagt, es habe nicht genügend Impfstoff. Also das ist nicht nur ein österreichisches Problem. Vielleicht wurde insgesamt zu wenig bestellt. Aber das Bestellen nützt ja auch nichts, wenn dann die Produktion nicht nachkommt.

Sind Sie eigentlich schon geimpft?
Ich bin noch nicht geimpft. Ich habe mich aber wie jeder andere Staatsbürger angemeldet und warte, bis ich drankomme.

Ein Jahr nach dem Lockdown haben wir eine Million Menschen, die arbeitslos sind oder in Kurzarbeit, viele Unternehmen stehen vor dem Ruin. Wie lange werden wir das noch durchhalten?
Vielen Unternehmen steht das Wasser wirklich bis zum Hals. Warum steht Österreich schlechter da als Deutschland? Weil bei uns der Tourismus eine größere Rolle spielt. Tirol und Salzburg sind deshalb besonders stark von den wirtschaftlichen Auswirkungen betroffen, auch Wien in einem Teilbereich, dem Städtetourismus. Da werden wir noch eine Durststrecke bis zum Sommer haben. Dann könnte das Virus kontrolliert sein. Insgesamt wird es aber länger dauern. Ich bin zwar überzeugt, dass wir schon heuer wieder positive Wachstumsraten haben werden. Aber auf das Niveau von 2019 werden wir wahrscheinlich erst im Laufe oder gegen Ende des Jahres 2022 kommen.

Und wie werden wir es durchhalten?
Indem wir uns um die Requalifizierung von Arbeitskräften kümmern. Ich höre, dass die Menschen in der Kurzarbeit sich Gedanken darüber machen sollten, ob sie mit der gleichen Qualifikation auch für der Zeit nach der Pandemie - Stichwort „Green Deal“ - hinreichend gerüstet sind. Das Gleiche gilt für die Arbeitslosen. Aber da scheinen die Schulungen zu wirken.

Die Kultur leidet besonders. Ist es richtig, dass Theater zugesperrt bleiben müssen, während Geschäfte und in weiterer Folge Lokale öffnen dürfen?
Der Bundespräsident ist leider nicht der Fachmann dafür. - Denkt kurz nach. -  Letztes Jahr haben Helga Rabl-Stadler und Intendant Markus Hinterhäuser, sicherlich unter größtem Bauchweh, die Salzburger Festspiele in beschränktem Rahmen stattfinden lassen. Ich war selber zweimal dort. Mit den entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen hat das hervorragend funktioniert. Es gab meines Wissens keinen einzigen Infektionsfall. Insofern hoffe ich, dass zumindest die Freiluftveranstaltungen - zum Beispiel Michael Niavarani im Schwarzenbergpark - stattfinden und dass dann schrittweise die Theater und die Oper aufsperren können, natürlich immer mit den entsprechenden Schutzmaßnahmen. Im Herbst ist hoffentlich schon alles wieder anders.

Die Umfragewerte der Regierung sind zuletzt drastisch gesunken. Zu Recht?
Wie haben Sie es genannt? Die Pandemüdigkeit ist nach einem Jahr der Einschränkungen schon sehr groß. Aber wenn jetzt der Frühling kommt … Vielleicht bessert sich dann auch die Stimmung.

Die Novelle zur Verschärfung des Epidemiegesetzes stößt auf großen Widerstand. Verstehen Sie, dass viele Menschen diese Maßnahmen - zum Beispiel, dass eine Zusammenkunft ab 4 Personen als Veranstaltung angemeldet werden muss - für überzogen halten?
Ich verstehe nicht ganz, wieso für so ein wichtiges Gesetz nur eine Woche Begutachtungsfrist war. Aber abgesehen davon gibt es natürlich zig andere Fragen. Mit Recht sagen sich viele: Wie kommen wir dazu, unsere Familientreffen als meldepflichtige Veranstaltung klassifizieren zu lassen? Dieser juristische Jargon ist nicht ganz sensibel und irritiert. Aber der endgültige Entwurf ist ja noch nicht da.

Der Gesundheitsminister ist jetzt erkrankt. Machen Sie sich Sorgen um Rudi Anschober?
Mache ich mir. Ich würde mir um jeden Gesundheitsminister, jede Ministerin, Sorgen machen, der unmittelbar nach der Amtseinführung von einer Pandemie überrollt wird. Also Tag für Tag, Woche für Woche Entscheidungen treffen muss, obwohl man nicht weiß, wie sich das Virus und die Ansteckungsrate entwickelt. Die Wissenschaft hilft, aber auch Wissenschaft ist etwas Vorläufiges: Es kommen ständig neue Informationen dazu. Und manchmal gibt es richtig gute Nachrichten. Ich habe mit Professor Huber, dem Biontech-Gründer gesprochen. Er sagte mir, dass am Ende des Jahres die Impfstoffe auch auf die Mutationen abgestimmt werden können. Hoffentlich hat er Recht.

Sie haben jetzt mehrmals im Gespräch gelächelt. Gilt Ihr legendärer Satz „Nur Mut und Zuversicht, wir kriegen das schon hin“ weiterhin?
Mehr denn je, möchte ich fast sagen. Vielleicht hilft es dem einen oder anderen sich zu fragen: Wann war denn meine letzte größere Lebenskrise? Arbeitslosigkeit, Scheidung, oder das Kind ist schwer erkrankt. Hat es mir da geholfen, mir das Schlimmste auszumalen oder hat es mir geholfen, zwar mit dem Schlimmsten zu rechnen, aber dann draufzukommen, dass es doch nicht so schlimm war. Gerade in einer Pandemie ist es wichtig sich zu sagen: Ja, wir haben eine Krise. Aber wir haben schon andere Krisen überstanden. Und sie geht wieder vorbei.

Norbert Hofer, der Unterlegene der letzten Bundespräsidentenwahl, hat angekündigt, erneut als Kandidat für das höchste Amt im Staat anzutreten. Muss er da mit Ihnen als Gegenkandidat rechnen?
Nice try, netter Versuch, sage ich bei sowas immer. - Lacht. - Wenn die FPÖ darüber nachdenkt, dann soll sie das ruhig machen, aber ich konzentriere mich jetzt wirklich auf etwas anderes. Meine Aufgabe ist es nicht zu spekulieren, was 2022 sein wird. Meine Aufgabe ist es, für ein bisschen mehr Gelassenheit zu werben, für einen anderen Ton, auch in der Politik. Wir müssen uns auch nach der Pandemie noch vertragen und in die Augen schauen können. Wenn sie vorbei ist, hat es da einen Sinn, wenn jeder noch Groll mit sich herumträgt?

Die FPÖ hat aber auch versucht, Sie in den Ibiza-Skandal hineinzuziehen. Haben Sie sich darüber geärgert?
Ich war erstaunt über die Fantasiewelt des Herrn Hafenecker.

Am Montag öffnet Vorarlberg als Testregion die Gastronomie. Hätten Sie Lust, dorthin auf ein Bier zu fahren?
Ja! Um zu sehen, wie die Vorarlberger das handhaben. Landeshauptmann Wallner hat mir erzählt, dass sie offenbar ein eigenes digitales Melde- und Registrierungssystem entwickelt haben. Das finde ich super. Wenn ich aber jetzt aus dem Tiroler Kaunertal käme, dann wäre ich von diesem Digitalsystem wohl nicht erfasst. Also was macht der Wirt dann mit mir? - Lacht. - Das ist natürlich eine triviale Frage. Ich wünsche Vorarlberg für den Testversuch alles Gute.

Was haben die Lockdowns mit Ihnen ganz persönlich gemacht?
Ich dachte am Anfang, das ist alles kein Problem. Mache ich halt Homeoffice. Aber ich mag Homeoffice nicht sehr. Arbeit im Büro, Entspannung zu Hause. Das ist das eine. Das andere ist, dass ich die persönlichen Treffen mit meinen Amtskollegen vermisse. Telefonieren und Skypen ist okay, aber es ist nicht dasselbe. Wenn ich höre, dass der Europäische Rat wieder virtuell tagt, ist die Gefahr groß, dass dabei nicht viel herauskommen kann. Auf diese Art kann man nämlich nur schwer verhandeln. Man kann niemanden zur Seite nehmen und sagen: „Du, überlege dir doch einmal das und das“. Beim Telefonieren weiß man nicht einmal, wer noch alles mithört. Selbst bei Videokonferenzen: Du weißt nicht, wer noch daneben sitzt. Alle Auslandsbesuche seit Februar 2020 sind ausgefallen. Es staut und staut sich. Um Ihre Frage zu beantworten: Der Lockdown hat die Sehnsucht nach dem Analogen geweckt. Einander wieder die Hand geben, näher beisammensitzen, sich treffen zu können. Darauf freue ich mich schon.

Seine Freunde nennen ihn Sascha

Geboren am 18. 1. 1944 in Wien, seine Eltern müssen nach der Oktoberrevolution aus ihrer Heimat vor den Sowjets fliehen. Zunächst nach Estland, am Ende landen sie in Tirol. Van der Bellen studiert in Innsbruck Volkswirtschaft, geht dann nach Berlin und lehrt ab 1999 in Wien. Von 1997 bis 2008 ist er Bundessprecher der Grünen, 2012-2015 Wiener Gemeinderat. Bundespräsident seit Mai 2016, seine Amtszeit endet 2022. Van der Bellen, den Freunde „Sascha“ nennen, ist in zweiter Ehe mit Doris Schmidauer verheiratet, aus der ersten Ehe hat er zwei erwachsene Söhne (Nicolai und Florian).

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