„Drunk Tank Pink“

Shame: Musikalisch aus der Adoleszenz befreit

Musik
19.01.2021 06:00

Drei Jahre nach ihrem rundum gefeierten Debütalbum „Songs Of Praise“ machen die Londoner Post-Punk-Rebellen Shame das einzig richtige und verändern auf dem brandneuen Zweitwerk „Drunk Tank Pink“ so gut wie alles, um nur sich nur ja nicht in Sicherheit zu wiegen. Der Fan wird dadurch mit Spannung und Authentizität belohnt.

(Bild: kmm)

Jeder Zeit ihre Musik. Nach jahrelangen Brexit-Querelen und einem Ende mit Schrecken für beide Seiten der Verhandlungsbasis sollte im politischen Kontext langsam wieder Ruhe einkehren, doch die Wut der Bürger bezüglich der Lethargie ihres eigenen Wahlverhaltens und der offen zur Schau gestellten Inkompetenz ihrer mehr oder weniger gewählten Volksvertreter hat längst in der Musik Einzug gehalten. Nicht nur die Alten wie die Sleaford Mods (die vor wenigen Tagen ihr grandioses Werk „Spare Ribs“ veröffentlichten) wettern mit unmissverständlicher verbaler Stringenz gegen die aktuellen Verfehlungen in ihrer Heimat. Hinter ihnen hat sich eine ganze Phalanx an wütenden Kids rekrutiert, die den nihilistischen Post-Punk der späten 70er- und frühen 80er-Jahre mit aktuellen Texten und Klangströmungen verbinden und somit an der Spitze der Protestkultur der Neuzeit stehen. Etwa die Iren Fontaines D.C. die mit „A Hero’s Death“ eines der größten Highlights 2020 veröffentlicht haben, die etwas zugänglicheren Idles, deren „Ultra Mono“ den letzten Lockdown-Herbst versüßte und natürlich die Südlondoner Rabauken Shame, die mit ihrem Debüt „Songs Of Praise“ vor exakt drei Jahren zu Kritiker- und Fanlieblingen wurden.

Im Zirkel verloren
Shame haben sich aber bewusst diversen Erwartungshaltungen entzogen und sorgen auf dem Nachfolger „Drunk Tank Pink“ für eine Zäsur in mehrfacher Hinsicht. Einerseits hat man sich klanglich aus dem bisherigen Erfolgskorsett geschält, andererseits reflektiert der Inhalt eine nicht für möglich gehaltene Reife, die im besten Wissen und Gewissen die naive Radikalität des Debüts konterkariert und gerade deshalb so gut dazupasst. Knapp 180 Shows pro Jahr spielten Shame bis zum Lockdown. Ohne Pause und Unterlass. In den räudigsten Pubs und Beisln vor dem Erfolgsdebüt, in anarchischen Baracken und immer respektabler werdenden Clubs danach. Shame tappten in die unvermeidliche Falle einer jungen und hungrigen Band: sie fanden sich in einem konstanten Rad des Tourens, der Partys, des Alkohols und des ausschweifenden Lebens wieder und damit einhergehend in einer Routine, aus der man mit juvenilen Individualismus ausbrechen möchte. Shame brauchten keine Corona-Pandemie, um sich verloren zu fühlen. Dazu reichte schon die bloße Tatsache, nach einem endlosen Zirkel des Hedonismus in der nasskalten Realität der Londoner Ziegelsteinbauten zurückgekehrt zu sein.

Für Shame galt es nicht nur die Eindrücke der Erlebnisse und Konzerte zu reflektieren, sondern auch in aller abgeschiedenen Ruhe der Tatsache gewahr zu werden, dass sich die Fanbase vervielfachte und man plötzlich „Everybody’s Darling“ in der renommierten Fachpresse war. Daran können junge Bands haltlos zerbrechen. Oder sie schwingen sich zu neuer Stärke auf und „Drunk Tank Pink“ beweist uns gottlob, dass Charlie Steen und Co. die Kurve zur richtigen Abzweigung genommen haben. Die Songs für das Album wurden schon vor Corona geschrieben, das Album im Laufe des letzten Jahres fertiggestellt. Die Hinhaltetaktik ob des perfekten Veröffentlichungstermins erwies sich am Ende als umsonst - aber wer kann das schon wissen? In gewisser Weise haben Shame während des Prozesses zum neuen Album den klassischen Weg der Adoleszenz erlebt. War das Debüt noch das ungestüme, wilde Einstiegsgeschenk an eine Welt, die diese offen nach außen gestülpte Kompromisslosigkeit wie einen Bissen Brot benötigte, ist der Nachfolger durchzogen von Reflektionen und Analysen von Mitte 20-Jährigen, die sich durch den nötigen Abstand vom Touralltag das erste Mal direkt mit ihrem Dasein als Erwachsene befassen mussten.

Im Schwebezustand
„Wenn du die ganze Zeit unterwegs bist und nie wirklich runterkommst, fühlst du dich unbesiegbar“, analysierte Steen die letzten Jahre mit seiner Band, „aber nach ein paar Jahren in diesem Leben realisierst du unweigerlich, dass ein gutes Bad und ausreichend Schlaf notwendig sind.“ Diese Ansicht soll freilich nicht in die Irre führen und die Theorie in die Welt setzen, Shame wären bereits altersmüde. Es gibt nur etwas mehr Talk Talk anstatt Sex Pistols, etwas mehr Gang Of Four-Feeling statt The Clash-Jovialität. Steen musste sich während des Songwritingprozesses das erste Mal mit sich selbst beschäftigen und einen Blick nach innen werfen. Der Albumtitel beruft sich auf die rosa Farbe, die früher verwendet wurde, um besoffene Insassen in Ausnüchterungszellen zu beruhigen. Was für eine punktgenaue Allegorie für die Band, die selbst in einem permanenten Schwebezustand der Unsicherheit steckt. Nicht nur, weil man Shame ist und gewisse Erwartungen zu erfüllen hat, sondern vor allem deshalb, weil man ein in England lebender postpubertärer Jungerwachsener ist, der keine Aussicht auf eine gesicherte Zukunft sieht. So traurig Perspektivenlosigkeit auch ist, der Kunst hat sie schon immer gutgetan.

Steen musste nicht nur zusehen, wie seine Beziehung in die Brüche und das Land vor die Hunde ging, er steckte trotz all der beruflichen Erfolge in einer veritablen Identitätskrise. „Das einzig Gute an dieser Krise war, dass sie wirklich jeder in meinem Umfeld spürt“, erklärt der Sänger, „völlig egal ob das andere Musiker oder Leute in normalen Jobs sind. Kein Mensch weiß, was zum Teufel auf der Welt gerade vor sich geht.“ Mit der neuen Realität taten sich Shame schwer, auch Gitarrist Sean Coyle-Smith war nach dem ständigen Unterwegssein heillos überfordert vom erzwungenen Hausarrest. Während Steen sich in einem Zimmer mit begehbarem Schrank einschloss, um in größtmöglicher Einsamkeit die Texte für das Album zu schreiben, wählte Coyle-Smith einen ähnlichen, aber doch anderen Weg. Er verbarrikadierte sich in seinem Schlafzimmer, um sein Musikwissen völlig neu zu überdenken. „Ich war der klassischen Gitarre auf dem Album müde“, erinnert er sich, „also habe ich alles neu gestimmt und viele Alternativen ausprobiert, den Sound neu zusammenzusetzen. Allein der Gedanke, auf konventionellem Wege ein Rock-Album einzuspielen hat mich krank gemacht.“


Geht der Opener „Alphabet“ noch als klanglich kongruente Fortsetzung des Debüts durch, zeigt schon das verschrobene „Nigel Hitter“, dass die Uhren bei Shame 2021 anders ticken. Mit dem Spoken-Vocal-Style ist Steen den Sleaford Mods näher als geplant, die gepresste Gitarre vermittelt eine unheilvolle Atmosphäre. Mit „Born In Luton“ und „March Day“ setzen Shame krachige, sich gängigen Songstrukturen völlig entziehende Songs obendrauf, die das Chaos im Kopf der Protagonisten in der Musik widerspiegeln. Der Schlüsselsong des Albums ist zweifellos das in der Mitte platzierte „Snow Day“. Eine durchdachte, verquere Grundstimmung geht über in eine Noise-Lawine, die staunend zurücklässt, weil so ein Song nicht nur alles niederwalzt, sondern in der Form auf dem Debüt niemals möglich gewesen wäre. Direkt danach gibt es mit dem persönlichen und sehr introvertierten „Human, In A Minute“ die erste und einzige Ausruhphase, deren Intensität bahnbrechend ist. „Drunk Tank Pink“ ist ein Album voller Experimente, Emotionen und sorgsam abgewickelter Erlebnisse. Mit dem Zweitwerk haben Shame sich Bahn für eine musikalisch völlig freie Zukunft bereitet, die zwischen Teenager-Rebellentum und widerwilligem Erwachsen steckt. Den Mutigen gehört die Welt.

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