"Stuttgart 21"

Proteste gegen Bahnhof eskalierten zu Straßenschlacht

Ausland
01.10.2010 09:24
Polizei gegen Bürger in Deutschland: Die seit Monaten laufenden Proteste gegen das Milliarden-Bahnprojekt "Stuttgart 21" in der Hauptstadt des Bundeslandes Baden-Württemberg sind am Donnerstag bzw. in der Nacht auf Freitag in blanke Gewalt umgeschlagen. Ein Großaufgebot der Polizei setzte bei einer regelrechten Straßenschlacht mit Demonstranten Wasserwerfer, Reizgas und Schlagstöcke ein. Mehr als 400 Menschen erlitten Augenreizungen, einige trugen Platzwunden und Nasenbrüche davon. Sogar gegen Schüler setzte die Polizei Tränengas ein.

Das Projekt "Stuttgart 21" sieht den Umbau des Kopfbahnhofs der Landeshauptstadt in eine riesige unterirdische Durchgangsstation und deren Anbindung an die geplante ICE-Neubaustrecke nach Ulm vor. Die Bahn rechnet mit Gesamtkosten von sieben Milliarden Euro. Kritiker befürchten eine Kostensteigerung auf bis zu 18,7 Milliarden Euro.

Die Proteste begannen schon vor einigen Jahren, als sich das Projekt noch in Planung befand. Seit Beginn der tatsächlichen Bauarbeiten vor ein paar Wochen gehen Mitglieder eines Aktionsbündnisses und aufgebrachte Bürger beinahe täglich auf die Straße.

Eskalation vor Fällarbeiten
In der Nacht auf Freitag haben die Baumfällarbeiten für das Bahn-Projekt im Stuttgarter Schlosspark begonnen (siehe Video). Rund 25 Bäume wurden gefällt und gleich vor Ort weiterverarbeitet. Etwa 1.500 Demonstranten begleiteten die Arbeiten mit lauten Pfiffen, aber auch mit Flaschenwürfen auf die Beamten.

Zuvor hatten bereits am Donnerstag mehrere Tausend Menschen gegen die Abholzung auf dem Baugelände des geplanten unterirdischen Bahnhofs protestiert. Nach Angaben des Stuttgarter Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf waren sechs Hundertschaften der Polizei im Einsatz - auch Bundespolizisten sowie Beamte aus Bayern, Rheinland-Pfalz, Hessen und Nordrhein-Westfalen.

Die Polizei sprach am Abend von 90 Menschen, die sich ambulant behandeln ließen, neun seien mit Platzwunden in Krankenhäuser gebracht worden. Viele Leichtverletzte hätten offensichtlich darauf verzichtet, sich behandeln zu lassen. Die Aktivisten kündigten massiven Widerstand für die nächsten Tage an. Ein Sprecher der sogenannten Parkschützer, Matthias von Herrmann, erwartete einen starken Zulauf für die Proteste: "Der Schlossgarten wird heute Abend und in der Nacht richtig voll." Spezialkräfte der Polizei setzten am frühen Abend einen Kran mit Hebebühne ein, um Besetzer von den Bäumen zu holen. Außerdem versuchten Beamte vier Aktivisten, die sich um einen Baum herum angekettet hatten, loszueisen.

"Das habe ich seit '68 nicht erlebt"
Die frühere ver.di-Landesvorsitzende Sybille Stamm berichtete von einem harten Gewalteinsatz bei der Auflösung von Blockaden. Sie sei neben Demonstranten gestanden, die sich an einen Zaun gekettet hatten, und sei ohne Vorankündigung von Polizisten zu Boden geworfen, getreten und mit Tränengas besprüht worden. "Das habe ich seit '68 nicht erlebt", sagte Stamm der dpa.

Am Vormittag hatten laut Polizei mehr als 1.000 Schüler im Schlossgarten gegen die Räumung des Parks demonstriert und dabei auch Beamte attackiert. Die Polizei war schließlich mit Tränengas gegen Schüler vorgegangen, die einen Lastwagen blockiert hatten. Eine Schülerin erlitt eine Gehirnerschütterung. Etwa 30 Schüler hatten einen Polizei-Lkw mit Absperrgittern besetzt und wurden später von Spezialkräften der Polizei heruntergeholt.    

"Eltern instrumentalisieren ihre Kinder"
CDU-Landtagsfraktionschef Peter Hauk warf den Projektgegnern vor, sogar Kinder für den Protest zu instrumentalisieren. "Ich finde es unverantwortlich von Müttern und Vätern, dass sie ihre Kinder nicht nur mitnehmen, sondern auch in die erste Reihe stellen", sagte Hauk in Stuttgart. Die Polizei werde zur Erledigung politischer Defizite vorgeschoben, sagte dagegen Grünen-Bundestagsfraktionschefin Renate Künast in Berlin. "Das hatten wir in Deutschland alles schon einmal." Der Linken-Fraktionsvize Ulrich Maurer forderte den Rücktritt von Landesinnenminister Heribert Rech (CDU): "Wer versucht, angemeldete Schülerdemos mit Schlagstöcken, Reizgas und Wasserwerfern aufzulösen, hat mit der Demokratie gebrochen und muss als Innenminister seinen Hut nehmen."

Rech sagte wiederum, es sei Aufgabe der Polizei, diese rechtlich genehmigte Baumaßnahme zu sichern. "Dem kommen wir ohne Wenn und Aber nach." Es sei bedauerlich, dass es zum Einsatz von Wasserwerfern gekommen sei. Die angemeldete Demonstration habe aber nicht den erwarteten Verlauf genommen und sei in Gewalt ausgeartet. Zudem hätten die Demonstranten nicht mit der Polizei sprechen wollen. Die Polizei setze zwar weiterhin auf Deeskalation. Bei Straftaten oder Blockaden werde aber mit Härte vorgegangen.

"Politik in Rambo-Manier"
Die Opposition aus SPD und Grünen sowie die Gewerkschaften zeigten sich entsetzt über das harte Vorgehen der Polizei. "Das ist Politik in Rambo-Manier", sagte ein DGB-Sprecher. "Mit einer brutalen Bulldozer-Politik wird die Auseinandersetzung nur schärfer und noch schwieriger werden", sagte Grünen-Chef Cem Özdemir in Berlin. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles mahnte Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU), er trage die Verantwortung, "Staat und Bürger nicht weiter gegeneinander aufzustacheln".

Die Kirchen riefen indes zur Gewaltfreiheit auf. Der evangelische Landesbischof Frank Otfried July und der katholische Bischof Gebhard Fürst appellierten an alle Parteien, "zum Tisch des gemeinsamen Gesprächs" zurückzukehren.

Auch Merkel schaltete sich ein
Am Freitagvormittag schaltete sich auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ein: "Ich wünsche mir, dass solche Demonstrationen friedlich verlaufen. Das muss immer versucht werden und alles muss vermieden werden, was zu Gewalt führen kann," sagte Merkel in einem Interview des SWR.

Die deutsche Kanzlerin verteidigte das Bahnprojekt erneut als sinnvoll und richtig. Wer mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene bringen und die Logistik modernisieren wolle, der müsse auch zu den dafür notwendigen Maßnahmen bereit sein.

Gegner wollen weiter demonstrieren
Die Gegner wollen ihren Protest gegen das Milliardenprojekt indes fortsetzen. Der Sprecher der "Parkschützer", Matthias von Herrmann, sagte am Freitag, dass "Stuttgart 21" durch die Fällung der ersten 25 Bäume nicht sinnvoller geworden sei. Er rechne damit, dass der Protest mindestens bis zur baden-württembergischen Landtagswahl am 27. März 2011 weiterlaufe. Eine Prognose über den Verlauf wagte er nicht. "Vor zwei bis drei Monaten hätte ich nicht geglaubt, dass es so einen Massenprotest gibt."

Herrmann räumte ein, dass er während der Fällarbeiten in der Nacht auf Donnerstag beobachtet habe, wie Plastikflaschen auf die Polizisten und die Arbeiter geworfen worden seien. Dem sei man aber sofort nachgegangen, betonte er. Ziel der "Parkschützer" sei es, den Protest friedlich zu halten. Für Freitagabend rief die Organisation zur wöchentlichen Freitagsdemo auf. Herrmann zeigte sich zuversichtlich, dass bis zu 100.000 Demonstranten kommen könnten. Angesichts der Bilder, die nach den gestrigen Protesten durch die Medien gegangen seien, erwarte er eine zusätzliche Mobilisierung. "Die Leute sind hell entsetzt."

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