Bürger in Slawjansk:

“Die Armee ist gekommen, um uns zu erschießen”

Ausland
04.05.2014 16:05
Es herrscht Angst in Slawjansk. Nachts gellen Schüsse durch die ostukrainische Stadt, Hubschrauber kreisen, und Sirenen heulen. Dann verstecken sich viele Bürger in ihren Kellern. An friedliche Feiertage zum Maibeginn ist hier nicht zu denken - auch wenn am Wochenende die acht Tage lang festgesetzten Militärbeobachter unversehrt wieder abreisen konnten. Immer mehr Menschen, auch Zivilisten, werden Opfer blutiger Gewalt.

"Sie sind gekommen, um uns zu erschießen", sagt der 30 Jahre alte Sergej Gutorow im Slawjansker Stadtteil Andrejewka mit Blick auf die ukrainischen Regierungstruppen. Er hält eine Patrone in der Hand. Seit die Armee die Stadt umzingelt hat, kommt das öffentliche Leben zunehmend zum Erliegen. "Wir haben Vorräte, aber frisches Brot gibt es zum Beispiel nicht", sagt eine Ukrainerin. Jeder versuche, trotz der Angst so weit wie möglich dem Alltag nachzugehen.

Für weitere aktuelle Entwicklungen in der Ukraine siehe Storys in der Infobox.

Die von den USA und der EU unterstützte Zentralregierung in Kiew hat die Truppen geschickt. Sie sollen aufräumen. "Antiterroroperation" heißt das offiziell - um zu verhindern, dass sich dieser vergleichsweise wohlhabende Landesteil komplett abspaltet. Slawjansk ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, Eisenbahnverbindungen führen in viele Richtungen, auch zu der im März an Russland angeschlossenen Schwarzmeerhalbinsel Krim.

Fiktive "Volksrepublik Donezk"
Auf einer blockierten Brücke stehen Dutzende schwer bewaffnete ukrainische Soldaten mit Panzerfahrzeugen und Gefechtswagen. Der Boden ist pechschwarz, Reifen brennen, von niedergebrannten Barrikaden der Aufständischen ist stellenweise nur noch Asche übrig. Doch andernorts entstehen sofort neue Bollwerke aus Sandsäcken und Autoreifen. Geschäftsleute helfen mit Baumaterial und Fahrzeugen aus.

Regierungsgegner haben in der Region eine fiktive "Volksrepublik Donezk" ausgerufen - oder eine "Donezker Föderative Republik", wie auf einem Aufkleber zu lesen ist. In vielen Orten neben Slawjansk haben die Separatisten bereits öffentliche Gebäude besetzt - oft beschützt von schwer bewaffneten Uniformierten. "Die Waffen haben wir in den Waffenkammern besetzter Geheimdienstgebäude ergattert", sagt einer dieser Maskierten. Seinen Namen nennt er nicht. Er sei vor dem Aufstand Manager gewesen, sagt er. "Jetzt bin ich hier, um die Volksrepublik Donezk zu verteidigen."

"Nach Slawjansk? Da ist Krieg!"
Am 11. Mai soll es im Raum Donezk ein Referendum über die Unabhängigkeit von Kiew geben. Aber wie diese Abstimmung ablaufen soll, kann keiner sagen. Sicher sind sich die meisten Menschen hier nur, dass die von Kiew angesetzte vorgezogene Präsidentenwahl am 25. Mai in der Region quasi ausfallen wird. Diese Wahl kümmert hier niemanden. Die Polizei sei "mit dem Volk", ist oft zu hören. Tatsächlich lässt sie die "Selbstverteidigungskräfte" gewähren. "Nach Slawjansk? Dann passen Sie auf, da ist Krieg!", sagt ein Polizist auf dem Weg zur Stadt. Die ganze Region ist im Ausnahmezustand.

Immer wieder drängen Regierungstruppen Aufständische zurück, nehmen mit Feuergewalt besetzte Gebäude unter ihre Kontrolle. Doch Friede kehrt nicht ein. Der Volkszorn wächst offenbar mit jedem neuen Toten. Was eine Seite erobert hat, kann die andere schnell zurückerobern - und so weiter. Zumindest auf der Straße ist keiner zu treffen, der die Regierung in Kiew unterstützt. "Sie sagen, sie wollen Slawjansk befreien von Separatisten und Terroristen. Aber niemand hat sie gerufen!", schimpft der 30-jährige Sergej im Stadtteil Andrejewka.

Wer ist schuld an den Exzessen?
Dass in der Ex-Sowjetrepublik nun schon seit Monaten - erst in Kiew, nun auch in der ostukrainischen Provinz - blutige Gewalt herrscht, sehen nicht wenige als Werk einer "Marionettenregierung, die von den USA gesteuert wird". Die Führung in Kiew hingegen gibt mal dem gestürzten Staatschef Viktor Janukowitsch, mal den ukrainischen Oligarchen, meistens aber Russland die Schuld an den Exzessen. Die meisten Menschen wollen jedoch gar nicht über Politik nachdenken. "Nachts nicht mehr diese Kämpfe - das wollen wir", sagt Tatjana aus dem von militanten prorussischen Kräften besetzten Zentrum von Slawjansk. Auf Anhieb ist auch niemand im Ort zu finden, der für den selbsternannten "Volksbürgermeister" Wjatscheslaw Ponomarjow seine Hand ins Feuer legen würde. "Er ist zwar einer von hier, kam aber wie aus einer Versenkung", sagt eine Anrainerin.

Auch wenn Ponomarjow nun die festgehaltenen OSZE-Militärbeobachter freigelassen hat, so hat er Menschenrechtlern zufolge immer noch Geiseln in seiner Gewalt, darunter ukrainische Journalisten. Michail Konowalow, ein Psychologe und Aktivist bei Amnesty International, beschreibt in einem Bericht, wie ihn Maskierte auf der Straße mit einer Waffe bedroht, auf die Knie gezwungen und dann an den Händen gefesselt hätten. "Ich hatte furchtbare Angst", so Konowalow nach seiner Freilassung.

In der Stadt wird viel über Gewalt der bewaffneten Milizen gegen die Bürger von Slawjansk geredet. "Ich habe gehört, dass Ponomarjow mit vorgehaltener Waffe Geschäfte beschlagnahmt und Privatvermögen zum Volkseigentum erklärt hat", sagt ein Bewohner.

"Haut ab, das ist unser Boden!"
Die Wahrheit ist in diesem Konflikt zwischen Moskau und Kiew, der auch ein Informationskrieg ist, schwer zu finden. "Was können wir dafür, wenn die USA und Russland die Ukraine mit ihren Händen in Stücke reißen wollen", sagt ein Regierungssoldat an der Brückenblockade in Andrejewka. Der Uniformierte reagiert ruhig auf das Geschrei einer Frau mit einer Opferkerze in der Hand: "Haut ab aus unserem Land - zurück zu eurer Junta in Kiew. Das ist unser Boden!"

Die Frau schimpft, dass die nicht gewählte Führung in Kiew in dem Konflikt die Armee einsetzt - gegen die Gesetze. "Wir werden nicht auf unbewaffnete Bürger schießen", versichert der Soldat in ruhigem Ton. Der Lauf seiner Maschinenpistole ist nach unten gerichtet. Hinter den Bewohnern liegt gerade eine weitere Nacht mit Gefechten. Und es dürfte nicht die Letzte bleiben.

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