Der Balkon Europas

Georgien erwacht aus seinem langen Dornröschenschlaf

Reisen & Urlaub
29.03.2013 14:09
Im Kaukasus liegt das Land, das Gott eigentlich für sich selbst reserviert hatte, aus dem die ersten Europäer kamen, in dem der Wein erfunden und das Goldene Vlies geraubt wurde. Jetzt erwacht es aus seinem touristischen Dornröschenschlaf: Georgien.

Das schönste Land der Erde, zwischen Kaukasus und Schwarzem Meer, hatte Gott bei der Erschaffung der Welt eigentlich für sich selbst reserviert. Als er alle anderen vergeben hatte, kamen stark verspätet die Georgier, erklärten, sie hätten besonders ausgiebig auf das Wohl des Schöpfers getrunken – und bekamen prompt dessen persönliches Paradies zugesprochen.

Diese Sage wird jedem Reisenden bis heute stolz erzählt, obwohl – oder gerade weil – Georgien seit Jahrzehnten wirtschaftlich und politisch gesehen alles andere als ein Paradies ist. Der letzte Krieg mit Russland ist nur wenige Jahre her, Hunderttausende haben das Land seit dem Zerfall der Sowjetunion verlassen. Das Sozialsystem funktioniert nicht gut, Kriegswitwen in Schwarz sind auf verschämtes Betteln angewiesen.

Jeder Reisende fühlt sich willkommen
Patriotismus und Gastfreundschaft ließen sich die Georgier aber durch schlechte Zeiten, Fremdherrschaft und Kriegswirren nicht nehmen. Jeder Reisende fühlt sich als Gast willkommen, nicht als Teil einer Urlauberherde, die möglichst viel Profit bringen soll. Touristisch gesehen erwacht das Land gerade aus einem Dornröschenschlaf. Als Reiseziel ist der Balkon Europas im äußersten Südosten des Kontinents – geografisch oft dem Nahen Osten oder Asien zugeordnet, dem Lebensgefühl nach ganz eindeutig europäisch – exotischer als viele Destinationen am anderen Ende der Welt.

Dabei war Georgien sogar die Heimat der allerersten Europäer: Sie siedelten vor etwa 1,8 Millionen Jahren in einem Kaukasustal. In diesem Gebiet lag auch das antike Königreich Kolchis, wo die Argonauten mit Jason und Medea das Goldene Vlies raubten; und der Berg Kasbek, wo Prometheus angekettet war.

In Georgien wurde der Wein erfunden
Seit 8.000 Jahren wird in den fruchtbaren Tälern Wein angebaut, sogar dessen Bezeichnung soll aus dem Georgischen – ghvino – stammen, etwa 1.000 Rebsorten sind bekannt. Wein gehört auch heute zu jeder Mahlzeit, besonders zur traditionellen Supra, der Festtafel, bei der sich die Tische unter Köstlichkeiten biegen. Ob Essen oder Trinken – serviert wird stets im Überfluss, als Zeichen für Großzügigkeit und Gastlichkeit. Köstlich ist alles, von den Vorspeisen wie Badridschani (gefüllte Melanzani mit Walnusscreme), Adschika (Peperonicreme), Chinkali (gefüllte Teigtaschen) und Chatschapuri (Käsefladen) über Fleischtöpfe und Spieße zu den üppigen Süßspeisen.

Wer da nicht zunehmen will, muss sich viel bewegen: Ein Land, das zu 87 Prozent aus Bergen besteht, ist natürlich ideal für Trekkingtouren und Wanderungen abseits aller Touristenpfade. Gedränge gibt es kaum, Trubel nur an wenigen Plätzen – darunter immer noch Stalins Geburtsort Gori. Der blutige Diktator gilt in seiner Heimat so manchem immer noch als Held und hat ein eigenes Museum. Besucht wird es vorwiegend von älteren Menschen, in auffallendem Gegensatz zu religiösen Pilgerstätten.

Kontrast zwischen Arm und Reich ist spürbar
Georgien wurde schon im vierten Jahrhundert christianisiert, seine orthodoxe Kirche erlebt seit der Unabhängigkeit des Landes einen ungeahnten Aufschwung. In kaum einem Land sind die Kirchen und Wallfahrtsorte so voll mit jungen Leuten. Es gehört offensichtlich zum Alltag, in Jeans und T-Shirt kurz im Gotteshaus haltzumachen, ein Gebet zu sprechen oder eine Ikone zu küssen. Die prächtige 84 Meter hohe Sameba-Kathedrale in der Hauptstadt Tbilisi mit ihrem riesigen Vorplatz wurde erst 2004 fertiggestellt – ein starker Kontrast zur lange vernachlässigten Altstadt, die erst in den letzten Jahren endlich restauriert wird. Liebevoll erneuerte Gebäude stehen neben verfallenden, armselige Höfe neben schicken Dachterrassen: Der Kontrast zwischen Reich und Arm ist in der Stadt besonders spürbar.

Auf dem Land wirkt die Vor-Konsumgesellschaft eher nostalgisch, mit Pferdefuhrwerken, Bauerndörfern und bunten Märkten. Die grandiose Landschaft entschädigt, wie etwa bei der atemberaubenden Fahrt über den fast 3.000 Meter hohen Kreuzpass, für Rumpelpisten und tiefe Schlaglöcher.

Schlechte Straßen und fehlende Infrastruktur werden aber durch die Herzlichkeit der Georgier mehr als wettgemacht: Wer von einer Reise mehr – oder einfach anderes – möchte als eine gut geölte Tourismusmaschinerie, hat auf Europas Balkon ein interessantes, lohnendes Ziel.

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