Album & Live in Linz

Gossip: Besser gut recycelt als schlecht erneuert

Musik
21.03.2024 09:00

Es gab eine amtliche Jubiläumstour für das 2009er-Album „Music For Men“, aber mit einer echten Wiedervereinigung von Gossip rechnete kaum noch jemand. Beth Ditto und ihre ehemaligen Spießgesellen haben sich dank Produzent Rick Rubin wieder gefunden – und spielen auf dem neuen Werk „Real Power“ all ihre Stärken aus. Live zu sehen am Lido Sounds in Linz.

(Bild: kmm)

Nicht nur der weihnachtliche Rauschebart von Rick Rubin erinnert an Jesus. Es liegt manchmal auch an seinem alltäglichen Gebärden und der Tatsache, dass er sich seine Produzentenmeriten wirklich hart erarbeitet hat. Als Mitgründer von Def Jam Recordings und Alben-Veredler von Künstlern wie Slayer, den Beastie Boys, Metallica, Adele oder den Imagine Dragons hat er die Musikwelt im hochkommerziellen Bereich definitiv mitgeprägt. Verantwortlich zeichnete Rubin 2009 auch für „Music For Men“, dem zu dieser Zeit bereits vierten Album des amerikanischen Indie-Dance-Kollektivs Gossip, das nicht zuletzt durch die Jahrhundert-Single „Heavy Cross“ zu einem All-Time-Favoriten der gesamten Szene geriet. Mit dem Ruhm ging es Gossip in der Bandgemeinschaft aber nicht so gut. Frontfrau Beth Ditto suchte ein paar Jahre später die Welt von Fashion und Film auf und konzentrierte sich lieber auf Soloprojekte.

Gereifte Gemeinschaft
Zum Zehn-Jahres-Jubiläum des Kultwerks 2019 gab es eine umjubelte Welttournee, die Gossip mitunter in die restlos ausverkaufte Wiener Arena führte und die Hoffnungen nach einem richtigen Comeback nährte. Was damals noch keiner wusste – Rubin ist es zu verdanken, dass es wirklich dazu kam. Ditto wollte eigentlich einen Nachfolger zu ihrem eher mäßig gelungenen Solodebüt „Fake Sugar“ aus 2017 kreieren, doch Rubin holte sich ihren langjährigen Songwriting-Partner Nathan Howdeshell ins hawaiianische Studio nach Kauai und schon wurde der Kreativprozess wieder in kollektive Sphären gerückt. Während der unglaublichen zwölf Jahre, die seit dem letzten Album „A Joyful Noise“ und dem Comeback-Werk „Real Power“ ins Land gezogen sind, haben diverse Protagonisten der Band Scheidungen, Trennungen, Todesfälle, kreative Blockaden und persönliche Krisen durchlebt. Heute stecken sie in ihren Vierzigern, haben noch immer eine treue Anhängerschar und wissen besser als früher, was sie aneinander haben.

„Mir wurden einige Dinge im Leben richtig klar“, erzählte Howdeshell im Vorfeld zur Albumveröffentlichung, „wir haben eine wundervolle Freundschaft, wir machen wundervolle Musik und wir sollten das Leben nie als selbstverständlich betrachten. Ich erkenne mittlerweile die Schönheit in den kleinen Dingen des Lebens.“ Abseits der persönlichen Veränderungen hat sich über die letzten zwölf Jahre auch das musikalische und gesellschaftliche Klima gewandelt. Man presst noch Vinyl für Liebhaber, aber keine CDs mehr, der Streaming-Markt sorgte für Umsatzverschiebungen und einen Paradigmenwechsel. Zusätzlich haben sich Themen, für die Gossip vor zehn bis 15 Jahren noch vehement gekämpft haben, nicht ausreichend, aber deutlich verbessert. „Queere Personen sind mittlerweile im Mainstream angekommen“, so Ditto, „das war vor zehn Jahren, als wir mit Gossip aufgehört haben, definitiv noch nicht der Fall.“

Themenverschiebung
Künstlerinnen und Künstler wie Sam Smith, Lil Nas X, Anohni, Christine And The Queens, Janelle Monáe oder Kim Petras stehen heute für eine Selbstverständlichkeit, für die Ditto einst genauso kämpfte wie für ein allumfassenderes Bild der Schönheitsideale und allgemeine Toleranzerhöhung. Klare Statements zu mehr Respekt und Akzeptanz war für „Real Power“ also nicht mehr so notwendig, wie es damals der Fall war. Dafür haben andere Themen Einzug gehalten, an denen es kein Vorbeikommen gab. Der Titeltrack etwa soll zum Erkennen und Einsetzen der eigenen Kräfte in Situationen animieren, wo eine überdimensional wirkende, gesellschaftliche Kraft mit Ohnmacht droht. Musikalisch ist „Real Power“ mit seiner Mischung aus Donna-Summer-Stimme, KISS-Spät-70er-Disco-Vibes und Indie-Feeling nicht nur das absolute Albumhighlight, sondern lässt sich auch locker in eine Reihe mit dem famosen „Heavy Cross“ einschlichten.

Dass Album- und Songtitel dem legendären Iggy And The Stooges-Werk „Raw Power“ ähneln, ist natürlich kein Zufall. Gossip erfinden auf ihrer Comebackscheibe das musikalische Rad nicht neu, sondern wandern freudig durch den eigenen Garten der Vergangenheit und picken sich dabei all die Blumen heraus, die man mit entsprechender Distanz zu früher noch immer schätzt und für gut befindet. Der Opener „Act Of God“ etwa streckt seine Fühler in Richtung Indie-Punk-Gitarrenzeit der frühen Tage aus, „Give It Up For Love“ als weiterer Ohrwurm lehnt sich an die Talking Heads an und die erste Single-Auskoppelung „Crazy Again“ ist eine in Ton gegossene Liebeserklärung einer restlos zufriedenen Beth Ditto, die nach Scheidung und Beziehungsquerelen seit geraumer Zeit wieder privates Glück samt Ruhe und Frieden gefunden hat. Die persönlichen Gefühle und Probleme sind auf „Real Power“ den globalen übergeordnet, dementsprechend geht es der Band auch mehr um den Mikrokosmos.

Späte Erkenntnis
„,Real Power‘ steht für die Kraft der richtigen Familie, der selbstgewählten Familie und der Freundschaft“, führt Ditto aus, „ohne Nathan kann ich keine Musik machen, es klappt einfach nicht. Ich hatte meine Probleme, aber es ist schön, mit einem weiteren Maniac völlig offen und ehrlich über alles sprechen zu können – und auch noch gemeinsam erwachsen zu werden. Wenn man älter wird und Menschen verloren hat, weiß man jene, die einem wichtig sind, umso mehr zu schätzen. Deshalb fühlt sich das Album auch nicht wie eine Reunion an, sondern einfach nur wie ein normaler gemeinsamer Gang ins Studio, um etwas zusammen zu erschaffen.“ So ist es auch dem Studioblick auf den Ozean zu verdanken, dass in Songs wie „Turn The Card“ auch einmal gemächliche Surf-Gitarren aus dem Gesamtklang durchschimmern. „Real Power“ ist kein weiteres Wunderalbum wie „Music For Men“, aber ein amtliches Comeback, dem am Ende nur eines fehlt: der Mut zur Andersartigkeit und zur Weiterentwicklung. Aber besser gut recycelt als schlecht erneuert.

Live beim Lido Sounds
Mit dem neuen Album „Real Power“ kehren Gossip diesen Sommer auch wieder zu uns zurück. Sie spielen gemeinsam mit Parov Stelar, Benjamin Clementine, Deichkind und Co. am 28. Juni beim Lido Sounds in Linz. Unter www.oeticket.com gibt es noch Karten und alle weiteren Informationen zum Live-Highlight.

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