Neues Studioalbum

The National: Neubeginn nach drohendem Absturz

Musik
26.04.2023 09:00

Die Pandemie, eine abgesagte Tour und eine schwere Depression bei Frontmann Matt Berninger hätte die New Yorker Indie-Helden The National karrieretechnisch beinahe begraben. Dass wir zwei Jahre später das famose Album „First Two Pages Of Frankenstein“ hören können, ist eine Comeback-Geschichte von Hollywood-Ausmaßen. Ein musikalisches Drama in mehreren Akten.

(Bild: kmm)

In der mittlerweile 24-jährigen Band-Geschichte von The National war die in New York formierte Band mehrmals kopfüber am nächsten Abgrund. Fünf grundverschiedene und kompetente Individuen mit dem untrüglichen Hang zur Rotweinflasche kommen sich schon mal in die Haare, wenn eine grandios geglaubte Idee von den anderen nicht als solche angenommen wird. Dass aber ausgerechnet die friedlichste Ära innerhalb der eigenen Grenzen fast für den endgültigen Fall des Projekts sorgte, ist eine bittersüße Ironie der eigenen Historie. 2021 fiel Frontmann Matt Berninger in ein tiefes Depressionsloch und kam im sonnigen L.A. einige Wochen lang noch nicht einmal vor die Türe. Seine Bandkollegen waren derweil anderweitig beschäftigt. Bryce Dessner verbrachte seine Zeit in Frankreich, Bruder Aaron arbeitete mit Megastar Taylor Swift an deren Alben „Folklore“ und „Evermore“ und die beiden Devendorfs widmeten sich in Ohio und Long Island ihren Projekten.

Gemeinsam aus der Krise
In der tiefen persönlichen Dunkelheit fand Berninger aber nicht nur den Weg zur temporären Selbstheilung, sondern wurde auch zum treibenden Kitt der in alle Richtungen ausschlingernden Band. „Ich konnte weder Melodien noch Texte schreiben“, gab der Frontmann vor Veröffentlichung des neuen Albums „First Two Pages Of Frankenstein“ bekannt, „obwohl wir immer Angst hatten, dass jedes Album das letzte von The National sein konnte, hatte ich zum allerersten Mal das Gefühl, jetzt könnte es wirklich vorbei sein.“ Neben den persönlichen Krisen pfuschte auch die Pandemie rein und die geplante große Tour zum 2019 überraschend hastig veröffentlichten Werk „I Am Easy To Find“ musste ersatzlos gestrichen werden. Doch gerade die geografische und mentale Trennung voneinander sorgte dafür, dass das Quintett sich aus unterschiedlichen Positionen und Lebensrealitäten begegnen konnte und damit ein neues Kapitel aufschlug.

2022 waren wieder Konzerte und Tourneen möglich und lyrisch erwies sich, nicht das erste Mal, Berningers Ehefrau Carin Besser als Rettungsinsel. Zusammen schrieben sie den poetischen Text zur Single „Tropic Morning News“ inmitten Berningers schwerer Depression. Die tiefe Dunkelheit der Weltlage und ihrer deprimierenden Nachrichtenwelt wurde mit einem deutlich positiveren Sound vermischt. „Schlussendlich wurde es ein Song darüber, wie schwer es ist, sich auszudrücken und wie man versucht, mit jemanden in Kontakt zu treten, wenn der Lärm der Welt jegliches Potenzial für ein Gespräch übertönt.“ Düstere Geschichten aus dem Untergrund waren schon immer Berningers Stärke. In einem aktuellen Interview mit dem renommierten „Guardian“ führt er das mitunter darauf zurück, dass er mit Carin seit mehr als 20 Jahren private Stabilität genießt. Zudem merkte er am eigenen Leib, dass er sich in den dunkelsten Phasen seiner Depression auf sehr viele Menschen verlassen konnte.

Gäste im Hintergrund
Arbeitete die Band am Vorgänger noch bewusst mit unzähligen Frauenstimmen zusammen, hat sich der Sänger für das kürzeste und kompakteste The-National-Album seit mehr als 15 Jahren wieder selbst in den Vordergrund gestellt. Kein Egotrip, aber womöglich ein wichtiger Baustein, um wieder das Selbstvertrauen der alten Tage zurückzuholen. Mit Sufjan Stevens, Phoebe Bridgers und Taylor Swift begrüßt man zwar drei famose Gäste, doch alle Stimmen bleiben im Vergleich zum Frontmann sanft im Hintergrund. Die elegische, mit feinen Piano-Tönen angetriebene Ballade „The Alcott“ mit Swift hat auf jeden Fall das Zeug, bei der nächsten Hallentour die Tränendrüsen zu malträtieren, aber auch das Bridgers-Stück „This Isn’t Helping“ sucht sein Heil am Boden der mentalen Verfassung, nur um sich mit einem geordneten instrumentalen Crescendo an die Oberfläche des Lebens zurückzukämpfen.

Mut zu Gefühlen und zur kompositorischen Offenheit hatten The National schon immer, aber auf ihrem neunten Album wirken sie klanglich besonders melancholisch und geben den inneren Gefühlswelten noch mehr Raum, sich in einem Anflug von Moll frei zu entfalten. „Für mich hat die Kraft dieser Platte mit der Absicht und der Struktur der Musik zu tun, die auf eine Menge zufälliger Magie trifft“, versucht Aaron Dessner das Wiederfinden von Freundschaft und musikalischer Gemeinschaft mit pathetischen Worten zu erklären. In „Eucalyptus“ etwa macht sich Berninger textlich Gedanken, wie es denn weitergeht, wenn seine Ehe oder auch die Band auseinanderbrechen würden. Wovon trennt man sich? Wie geht man mit dem Gefühl um und wie macht man weiter? Die Schönheit von The National war schon immer in ihrer zarten Fragilität zu verorten, doch mit mehr als 20 Jahren gemeinsamer Erlebnisse und Erfahrungen kommt man großen Geschichtenerzählern wie Nick Cave oder auch Bob Dylan immer näher, ohne den Vergleich scheuen zu müssen.

Den gordischen Knoten gelöst
Songs wie „Grease In Your Hair“ oder „Ice Machines“ hat die Band schon live versucht und nun studiotauglich verfeinert für Album und Streaming-Playlisten schöngebügelt. Der Albumtitel „First Two Pages Of Frankenstein“ beruft sich auf den Roman-Klassiker von Mary Shelley, den Berninger in die Hand nahm, um in seinen unkreativsten Phasen nach Wort-Inspirationen zu suchen. Er steht sinnbildlich für die bleierne, fast schon hypnotische Schwere und den plötzlichen Aufbruch, der den gordischen Knoten in zauberhafter Art und Weise wieder zu lösen wusste. Mit „Send For Me“ gelingt Berninger ganz am Ende der vielleicht sanfteste und auch freundlichste Song seiner bisherigen Karriere. Ein wundervoller Schlusspunkt für ein wundervolles Projekt, das den Geist der Gemeinschaft und seelischen Gesundheit so gut einfängt wie kein Album davor. Welcome back!

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