Gül in Deutschland

Türkei-Präsident: “Fahrradfahrer EU tritt nicht in Pedale”

Ausland
19.09.2011 21:41
Der Wirtschaftsboom und der politische Aufstieg der Türkei in Nahost verbessern nach den Worten von Präsident Abdullah Gül das Ansehen seines Landes in der Europäischen Union. Die EU sei aber derzeit schwach und verhalte sich "wie ein Fahrradfahrer, der nicht mehr in die Pedale tritt und deshalb sturzgefährdet ist", sagte Gül auf dem Flug zum Staatsbesuch in Deutschland, der am Montag begann.

Viele Europäer hätten sich die Türkei bisher als rückständiges Land vorgestellt, wo Pferdewagen statt Autos auf den Straßen fahren, sagte Gül gegenüber türkischen Journalisten. Nun ändere sich dieses Image. Wirtschaftlich seien Deutschland und die Türkei "die zwei gesunden Staaten Europas".

"Starkes Image der Türkei in EU"
Inmitten der Krise in der EU lege die Türkei wirtschaftlich zu, politisch sei die Türkei heute in der internationalen Arena so einflussreich wie die ganze EU zusammen. Die Europäer fragten inzwischen verwundert, ob die Türkei wirklich immer noch EU-Mitglied werden wolle. "Das stärkt das Image der Türkei in Europa."

Gül wurde dann mit militärischen Ehren zu seinem dreitägigen Besuch in Deutschland empfangen. Zum Auftakt schlossen Deutschland und die Türkei ein Doppelbesteuerungsabkommen. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble und sein türkischer Kollege Mehmet Simsek unterzeichneten die Vereinbarung in Berlin im Beisein von Gül und Deutschlands Bundespräsident Christian Wulff. Dies sei ein Schritt für verlässliche, berechenbare Rahmenbedingungen, sagte Wulff.

Forderung nach Änderung des Einwanderungsrechts
Auf wenig Gegenliebe stieß Gül im Zuge des seines ersten Besuchstages dagegen mit seiner Forderung, das 2007 verschärfte deutsche Einwanderungsrecht zu ändern. Insbesondere wendet sich die Türkei gegen die Regelung, wonach künftige Ehepartner aus der Türkei vor ihrer Einreise deutsche Sprachkenntnisse nachweisen müssen. Für die Bundesregierung sagte Staatsministerin Maria Böhmer, die Kritik entbehre jeder Grundlage: "Deutschkurse sind von unmittelbarem Nutzen für die Zuwanderer." Wulff sagte, insbesondere türkische Frauen dürften wegen mangelnder Sprachkenntnisse "nicht in einer Parallelgesellschaft verharren".

Auch die Visapflicht für türkische Geschäftsleute ist Gül ein Dorn im Auge - es stehe dem Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen im Weg. Wulff sprach sich für Erleichterungen aus.

EU-Beitritt weiterhin "strategisches Ziel"
Der türkische Präsident bekräftigte den Wunsch nach einem EU-Beitritt seines Landes. "Von diesem strategischen Ziel werden wir nicht abrücken." Die Formulierung "strategische Partnerschaft", die Bundeskanzlerin Angela Merkel der Türkei angeboten hatte, lehnte Gül ab. Die Türkei müsse die Chance erhalten, die ins Stocken geratenen Verhandlungen mit der EU erfolgreich abzuschließen. Danach müssten die Mitgliedsländer und auch das türkische Volk entscheiden.

Bundespräsident Wulff sprach von "fairen und ergebnisoffenen Beitrittsverhandlungen". Deutschland habe hier eher eine Vermittlerrolle und sei nicht besonders kritisch gegenüber dem türkischen EU-Beitritt. "Die Türkei muss sich anstrengen, Europa aber auch", sagte Wulff. Er hob die gewachsene internationale Verantwortung der Türkei hervor und forderte, die Veränderungen in der arabischen Welt als Chance zu begreifen. Die Türkei könne mit ihrer Verbindung von Pluralismus und Islam Vorbild sein für arabische und nordafrikanische Länder.

Bombendrohung brachte Programm durcheinander
Unmittelbar vor einer geplanten Rede des türkischen Staatschefs in der Humboldt-Universität musste die Polizei dann den Saal räumen lassen. Gül hielt seine Ansprache in einem anderen Raum. Ein Polizeisprecher sagte am Abend, vor dem geplanten Auftritt Güls sei telefonisch eine Drohung eingegangen, "die von uns als ernstzunehmend eingestuft wurde". Die Worte seien schwer verständlich gewesen, es habe sich aber wahrscheinlich um eine Bombendrohung gehandelt. Das Areal um das Universitätsgebäude wurde weiträumig abgesperrt.

Am Dienstag trifft Gül nun mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammen, bevor er mit Wulff nach Osnabrück, die Heimatstadt des Bundespräsidenten, weiterreist. Am Mittwoch besucht er zum Abschluss seines Staatsbesuchs Baden-Württemberg.

Evangelische Kirche: "Diskriminierung und Vertreibung"
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Nikolaus Schneider, forderte passend zum Thema am Montag ein Ende der Benachteiligung von Christen in der Türkei. "Es ist sehr viel besser geworden, aber es ist immer noch diskriminierend", sagte Schneider der Nachrichtenagentur dpa. Der Anteil der Christen an der türkischen Bevölkerung habe vor 100 Jahren bei 25 Prozent gelegen, heute liege er bei 0,2 Prozent. "Das ist das Ergebnis gezielter Diskriminierung und Vertreibung."

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