Jungstar im Interview

Gayle: Über Nacht zum zukunftsträchtigen Pop-Star

Musik
08.10.2022 06:01

Mit ihrer Single „abcdefu“ eroberte die 18-jährige US-Sängerin Gayle Anfang des Jahres die Charts und hielt sich dort über zwei Monate. Mittlerweile ist sie in einem vollem Wembley-Stadion und beim Frequency aufgetreten. Ist das nicht zu viel auf einmal? Im Interview mit uns resümiert sie ein Jahr voller Verrücktheiten und geht offen mit ihrem nicht immer einfachen Leben um.

(Bild: kmm)

Im Jänner 2022 ahnten wir noch nichts von einem Krieg in Europa. Gaskrise, exorbitant steigende Benzinpreise und Energieverknappung waren Termini, die man maximal im Duden nachschlug, wenn einem in einer düsteren Winternacht wieder einmal langweilig war. Doch Jänner 2022 bedeutete auch tiefster Winter-Lockdown. Sonne, Spaß und Spiel noch monatelang entfernt, die Intensivstationen viel zu voll. Da kam eine 17-jährige Göre mit nonchalanter Botschaft und Avril-Lavigne-Sound gerade recht. Taylor Gayle Rutherfurd, schlicht Gayle genannt, eroberte mit der Single „abcdefu“ die heimischen Single-Charts, positionierte sich dort ganze neun Wochen lang und heimste hierzulande drei Mal Platin ein. Im August folgte ihr Österreich-Livedebüt am Frequency-Festival, wo sie trotz Indoor-Set (!) am Warm-Up-Tag (!!) gegen 16 Uhr (!!!) für mehr Feuer sorgte als so manch etablierter Act Tage später.

Von 45 auf 80.000
„Das Konzert war grandios, das vergesse ich nie“, zeigt sich die mittlerweile 18-Jährige im „Krone“-Talk euphorisch, „in St. Pölten haben die Leute zum ersten Mal einen Moshpit bei einem meiner Konzerte gestartet. Und das auch noch bei einem soften Song.“ Gayle ist gut gelaunt, redet mit breitem US-Akzent in Maschinengewehrgeschwindigkeit und genießt den Moment. Noch vor einem Jahr, wie sie humorig anmerkt, spielte sie vor 45 Leuten. Im Juni dieses Jahres jubelten ihr beim „Capital Summertime Ball“ im Londoner Wembley-Stadion 80.000 zu. Ganz schön viel Geschrei für eine junge Künstlerin, die sich via TikTok in die Herzen der Fans spielte und das klassische Albumformat als Präsentationsfläche gar nicht mehr wirklich braucht. „abcdefu“ war nicht nur in Österreich ein Renner, der ironisch-angriffige Song über eine gescheiterte Beziehung und die Wut auf den ehemaligen Partner rutschte u.a. auch in England, Deutschland, Australien oder Malaysia ganz nach oben.

Dieser und andere Lieder landeten schlussendlich auf der EP „A Study Of The Human Experience Volume One“, wo schon der Titel vorgab, dass es eine Fortsetzung geben werde. Teil zwei erscheint dieser Tage und schließt den Teenager-Kreis der Interpretin. „Die Songs der ersten EP habe ich mit 15 geschrieben. Ich habe lange überlegt, ob ich sie überhaupt rausbringen sollte, weil bei all den Lockdowns nie der richtige Zeitpunkt war. Als ich es aber doch tat, war ich vom Zuspruch völlig erstaunt.“ Gayle wurde über Nacht zu einem Star und kämpft nun, wie viele andere vor ihr, mit den radikalen Lebensveränderungen und der wie ein Damoklesschwert über einen pendelnden Angst, vielleicht nie wieder einen Song zu schreiben, der dem Erfolg des ersten gerecht wird. „Wenn ich zuhause ruhig in meinem Bett liege, dann platzt mir oft der Schädel beim Reflektieren“, gibt sie zu, „bei den ersten Konzerten war mir auch wirklich übel. Aber das Schlimmste ist überstanden. Ich bin etwas nervös und voller Adrenalin, aber ansonsten geht es mir ganz gut.“

So normal wie möglich
Gayle steht wie selbstverständlich für ein Frauenbild in der Musikwelt, dass wir seit einigen Jahren verstärkt erleben. Sie redet offen über Probleme und Rückschläge, befindet sich in Therapie, um mit sich und ihrem Leben besser klarzukommen und verbindet sich über diverse soziale Netzwerke mit ihren Fans, die sie manchmal genauso gut verstehen kann wie ihre Fans sie selbst. „Es ist wichtig zu wissen, dass niemand auf dieser Welt mit seinen Problemen alleine klarkommen muss. Ich tue mir mit all dem, was gerade über mich hereinbricht, schwer und versuche ein so normaler Mensch wie möglich zu sein.“ Wenn Gayle nicht gerade Gitarre spielt oder singt, dann bäckt sie, malt, schreibt Texte oder geht manchmal auch laufen. „Die Betonung liegt auf manchmal, denn ich bin eigentlich viel zu faul dafür.“ Neben Festivalauftritten gab es dieses Jahr auch schon Shows im Vorprogramm von My Chemical Romance oder einer anderen Durchstarterin, Tate McRae.

Die sechs brandneuen Songs auf ihrer zweiten EP sind deutlich erwachsener und gereifter geraten, die rasante Entwicklung in den Teenagerjahren kriegt man klanglich gut mit. Gayle changiert zwischen Emo, Punk, Rock, Slacker-Indie und Pop hin und her, lässt uns aber immer fühlen, dass die Gitarre das wichtigste und treibende Element ihres Sounds ist. Textlich geht sie in die Vollen. Manchmal gar so weit, dass es wehtut. So steht der Track „15“ für einen sehr persönlichen Missbrauchsmoment in ebenjenem Alter, den sie offen und intim damit verarbeitet. „Ich musste schon tiefe Täler durchschreiten, die man jungen Menschen nicht zumuten sollte“, führt sie ernst aus, „ich brauche solche Songs, um mich selbst aufzubauen. Und vor allem hoffe ich, dass ich damit auch anderen helfen kann.“ „ALEX“ ist eine direkte Reaktion auf „abcdefu“, auf „God Has A Sense Of Humor“ zeigt Gayle ihre Perspektive zum Thema Religion auf und das abschließende „Snow Angels“ animiert dazu, in einer immer entrückter werdenden Welt auch einmal bewusst abzuschalten und ungezwungen den Spaß des Moments zu genießen.

Keine Vorbildrolle
Für Gayle sind die Songs auch ein Mittel zur erweiterten Kommunikation. „In meinen Songtexten geht es schon mal offensiver zu, so manches würde ich Leuten in einer normalen Unterhaltung nicht so einfach ins Gesicht werfen“, lacht sie laut auf, „andererseits habe ich über die letzten Jahre auch gelernt, dass ich nicht all meine Probleme nach außen tragen will. Manche Dinge sind privat und bleiben privat, auch wenn ich die Grenzen dahingehend weit nach außen verschiebe.“ Gayle, die selbst von starken Frauen wie Ella Fitzgerald, Aretha Franklin oder Julia Michaels beeinflusst wurde, will sich aber keinesfalls in die Rolle eines Vorbildes drängen. „Ich möchte natürlich gute Botschaften an junge Mädchen vermitteln, aber ich will auch Fehler machen und sie ausbügeln können. Eine Idolisierung strebe ich nicht an.“ Mit dem momentanen Hype wird es für Gayle jedenfalls schwierig bleiben, ein normales 18-jährigen-Leben zu führen. Allzu viele sind am frühen Druck zerschellt …

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