„Krone“-Kolumne

Bisexuell: „Tiktok weiß es vor dir“

Kolumnen
09.02.2022 16:33

Soziologin und Sexualpädagogin Barbara Rothmüller über die magischen Fähigkeiten des Videoportals Tiktok, sexuelle Orientierungen zu erraten.

„Gibt es hier noch andere junge Frauen, die sich darüber ärgern, dass wir 20 Jahre gebraucht haben, um herauszufinden, dass wir bisexuell sind? Aber mein Tiktok-Algorithmus brauchte dafür nur 37 Sekunden?!“ Hunderttausend Likes hat diese Frage der 28-jährigen Userin Destiny auf Tiktok generiert, einem Video-basierten sozialen Netzwerk, das laut Jugend-Internet-Monitor von mehr als der Hälfte der Jugendlichen in Österreich genutzt wird. Und Hunderte Frauen antworteten. „Ich bin nicht sicher, was frustrierender ist: Dass Tiktok es vor mir weiß oder dass mein Ehemann es vor mir weiß.“ „Tiktok hat mich von Anfang an in diese Kategorie reingeschmissen und ich so: Woher weiß es das?!“

Worte für das eigene Begehren zu finden, ist manchmal nicht so einfach. Tiktok braucht keine Worte. Denn Tiktok schlägt seinen Usern Videos auf der Basis ihres Sehverhaltens vor: Wenn attraktive, queere Frauen ihren Blick fesseln, denkt der Algorithmus, Sie könnten sich auch für weitere Videos mit Frauen interessieren. Und schlägt Ihnen in Zukunft eben Videos vor, die zu Ihren Sehvorlieben passen. Ob Sie selbst schon etwas von Ihren eigenen Vorlieben wissen, ist Tiktok dabei egal. Und so kommt es, dass sich so manche junge Frau mit lesbischen Inhalten wiederfindet - und dabei entdeckt, dass sie vielleicht nicht so heterosexuell ist, wie sie dachte.

Ein ganz neues Phänomen ist das nicht. Eine Userin erzählt über ihre Erfahrung: „Alle außer mir wussten es, sogar meine Mutter wusste, dass ich seit der Mittelschule auf Mädchen stehe.“ Haben Mütter, (Ehe-)Partner und Tiktok magische Hellseher-Fähigkeiten? Wohl eher nicht. Letztes Jahr ist im kleinen Wiener Achse Verlag ein Buch erschienen mit dem Titel: „Mich hat nicht gewundert, dass sie auf Mädchen steht“. Das Buch enthält Gespräche mit Eltern queerer Kinder und will alle Beteiligten ermutigen, sich auf die anstrengende, aber lohnende Reise zu machen, Tabus zu überwinden und miteinander zu reden. Mit Eltern, Partnern, besten Freundinnen und neuerdings Tiktok verbringen wir viel Zeit. Sie wissen, was uns Spaß macht und was uns gefällt. Es ist wenig überraschend, dass sie es auch sind, die merken, welche Menschen unsere Aufmerksamkeit fesseln. Nach wem wir uns auf der Straße umdrehen. Bei Tiktok heißt das eben: Ein Video bis zum Ende ansehen, ein Video liken, ein Video sharen (teilen).

Die Videos auf Tiktok können junge Frauen nicht dazu bringen, Frauen attraktiv zu finden. Aber sie bieten Worte für ein Begehren, das vorher schon da war. Sexuelle Fantasien können, müssen aber nicht mit sexuellen Handlungen und Identitäten übereinstimmen. Manche Frauen finden Frauen erotisch anziehend, selbst wenn sie sich bislang nicht als bisexuell identifiziert haben. „Mein Ehemann fragt, ob ich mir schon wieder die Videos von den Frauen ansehe“, schreibt eine Userin lachend unter die Frage von Destiny. Ein Problem sieht sie dabei nicht. Ihr Mann offensichtlich auch nicht. Tiktok ist eine Spielwiese, die vielen Menschen Spaß macht. Und hat wohl nicht zufällig deshalb die größten Zuwächse unter Jugendlichen.

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