In seiner Serie „Die Letzten“ porträtiert Autor Robert Schneider Menschen, die einem alten Handwerk oder einer alten Kulturtechnik nachgehen. In dieser Woche hat er den Bibliothekar Norbert Schnetzer besucht.
Baulärm. Schweres Gerät vor der Vorarlberger Landesbibliothek. Der Eingangsbereich wird gerade neu gestaltet. Kantige Arbeiter mit hochgekrempelten Ärmeln sind an Bohr-, Polier- und Schleifmaschinen zugang. Ob die wohl interessiert, welche bibliophilen Schätze in der ehemaligen Bibliothek des Klosters St. Gallus schlummern, in die mich Mag. Norbert Schnetzer eintreten lässt? Wobei wir eher in die Sondersammlung hineinturnen und -stolpern als eintreten. Eine Lärmschutztür, dann die eigentliche Tür, schließlich eine Staubschutzverkleidung aus Plastik mit Reißverschluss. Ein hoher Raum erschließt sich mir mit vergitterten Fenstern in Bleiverglasung, edlen Buchregalen aus Eichenholz, in denen die wertvollsten Bestände der Bibliothek aufbewahrt werden. In Leder oder Pergament gebundene Folianten, Quart- und Oktavbände. Längst vergessene Bezeichnungen für die Buchformate vergangener Jahrhunderte.
Ob er mit seinem Beruf als Bibliothekar überhaupt in die Reihe vom alten Handwerk hineinpasse, fragt mich Herr Schnetzer mit leiser Zurückhaltung. Ich bejahe und sage, dass es auch ein Handwerk des Geistes gibt, das es zu würdigen gilt.
40.000 Bände
Herr Schnetzer ist zum Direktorstellvertreter der Landesbibliothek avanciert und außerdem studierter Historiker. „Hier in diesem Raum habe ich als junger Mann angefangen. Ich war und bin noch immer zuständig für alles, was vor 1850 entstanden ist. Das ist in etwa die Zeit, wo das handwerklich hergestellte Buch zum Industrieprodukt übergegangen ist. Wir beherbergen hier ungefähr 40.000 Bände. Davon befinden sich rund 11.500 Bände direkt in der Stiftsbibliothek selbst. Der Rest lagert im Außendepot in Hard. Dieses Außendepot aufzubauen nahm etliche Zeit in Anspruch.“
Was ein Bibliothekar genau mache, will ich wissen. „Der Beruf ist breit gefächert. Kommt durch eine Schenkung ein Bestand in die Bibliothek - wie z. B. im Jahr 1992 die ehemalige Kapuzinerbibliothek aus Bregenz -, besteht meine Aufgabe darin, diesen Bestand zu sichten, inhaltlich zu erschließen und zu sichern. Oft sind die Bücher in einem sehr schlechten Zustand und müssen restauriert werden. Ich restauriere und binde aber nicht, sondern versuche - gerade bei so alten Sammlungen - nach Kriterien der Provenienz zu strukturieren. Das ist Knochenarbeit und viel Recherche. Ein altes Buch hat ja weit mehr Informationsebenen als ein neues Buch.“
Ein magisches Büchlein
Norbert Schnetzer redet wie im Trommelfeuer, und ich spüre, dass sein Mund wirklich überläuft vor lauter Begeisterung für alte Druckwerke. Er führt mich an einen Tisch, wo ein merkwürdiges Büchlein liegt, das keinen Buchrücken hat. Es ist eine Art Erbauungsbuch aus dem 18. Jahrhundert. Herr Schnetzer nimmt es vorsichtig in die Hände und versetzt mich in baffes Erstaunen. Das Büchlein lässt sich nämlich wie durch Magie von allen vier Seiten öffnen und lesen. Ein Unikat in der Sammlung, in der es nur so von Unikaten strotzt.
Auf das Thema „Verbotene Bücher“ angesprochen, erzählt er: „Zu allen Zeiten gab es in den Klosterbibliotheken einen sogenannten “Giftschrank„. Das ist ein Terminus aus der bibliothekarischen Welt. Dort wurde Literatur verwahrt, meistens durch ein Gitter gesichert, die nicht für jeden bestimmt war. Häretische Werke, Titel, die auf dem Index standen, ja sogar Erotika. Natürlich besaß eine katholische Bibliothek die Schriften von Martin Luther. Aus einem einfachen Grund: Man musste darauf replizieren können. Aber lesen durften diese Texte nur ganz auserwählte Geister, jedenfalls kein Novize.“
Wir flanieren weiter durch die geschichtsträchtigen Korridore. Norbert Schnetzer bleibt vor einem Regal stehen, wo auch der Laie sofort sieht, dass einzelne Bücher in einem sehr schlechten Zustand sind. Es handelt sich um die ehemalige Kapuzinerbibliothek von Bezau. „Hier besteht meine Aufgabe darin, gemeinsam mit einem Restaurator ein genaues Zustandsprotokoll zu erstellen. Dann werden, je nach finanziellen Mitteln, Bereiche der Restauration definiert.“
„Nicht entlehnbar“
Ob ich eine Inkunabel, also einen wertvollen Wiegendruck ausleihen könne, frage ich etwas provokant. „Aus der Stiftsbibliothek ist kein einziges Buch entlehnbar“, antwortet Schnetzer resolut. „Sie können es je nach Wert mit oder ohne Aufsicht im Lesesaal studieren. Die schlimmsten Fälle von Diebstahl in der Bibliothekarswelt geschehen übrigens nicht durch Laufkundschaft, sondern durch Leute, die vielleicht schon zwanzig Jahre in eine Bibliothek kommen und dann plötzlich mit der Rasierklinge ein Blatt aus einem Codex heraustrennen. Etwas, womit man gar nicht rechnet.“
Es macht unglaublichen Spaß, Norbert Schnetzer zuzuhören. Der Mann verfügt über ein stupendes Wissen, kann über die Genese eines einzigen Buches stundenlang berichten, und es hört sich fast an wie in Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“. Was er sich noch auf seine „alten Tage“ wünsche, frage ich zum Schluss. „Ich würde noch so gern eine Geschichte des Vorarlberger Buchdrucks schreiben, denn die kennt fast niemand.“
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