Kooperationsalbum

Holley & White: Kunst, die Seelen retten kann

Musik
28.06.2021 06:00

Mehr oder weniger aus dem Zustand entstand „Broken Mirror: A Selfie Reflection“. Ein Album, das die US-Indie-Musiker- und Produzenten-Legende Matthew E. White mit dem autodidaktischen Künstler Lonnie Holley, dessen Lebensgeschichte Bücher füllen wurde, kreierte. Heraus kam ein alternative Urban-Jungle-Mix mit Krautrock- und Jazz-Anleihen, der sich kritisch mit dem Zeitgeist der Digitalisierung auseinandersetzt.

(Bild: kmm)

Lonnie Holley ist in der amerikanischen Künstler- und Alternativeszene so etwas wie ein Nationalheiligtum. Auch wenn er es hierzulande niemals zu großem Ruhm brachte, kommt man bei breiterem kulturellem Interesse nicht an der unglaublichen Vita des heute 71-Jährigen vorbei. 1950 als siebentes von insgesamt 27 Kindern in Birmingham, Alabama geboren, wurde Holley der Sage nach als Vierjähriger von seiner Mutter gegen eine Flasche Whisky eingetauscht. In der nur langsam auslaufenden Ära der Jim-Crow-Gesetze wurde er in den Südstaaten mit permanentem Rassismus konfrontiert und betätigte sich neben den Erniedrigungen in der Schule schon als Kind in unterschiedlichen Jobs. Koch, Totengräber oder Müllsammler bei Autokinos zählten zu den Tätigkeiten. Mit 14 wurde er von seiner Großmutter wieder in den übriggebliebenen Familienschoß zurückgeholt, mit 15 das erste Mal Vater. Bis heute soll er 15 Kinder sein Eigen nennen. Seine künstlerische Karriere begann wenig später aus reinem Zufall.

Spontan zur Musik
Als bei einem tragischen Hausbrand die beiden Kinder seiner Schwester starben, fehlte der Familie das Budget für Grabsteine. So besorgte Holley sich Sandstein und stellte die Grabsteine selbst her. Aus einer tragischen Verlegenheitslösung sollte eine autodidaktische, künstlerische Karriere entstehen, die Holley mittlerweile zu einer Legende gedeihen ließ. Seit 1979, kurz vor seinem 30er, betätigt er sich regelmäßig als Künstler. Er formte gefundene Objekte zu Skulpturen im Stile der afrikanischen Bildhauerei, widmete sich der Malerei, der Poesie, der Fotografie und der Performance. Bei diesen Auftritten improvisierte Holley immer wieder mit Musik, die sich bei jedem Auftritt spontan ändern und wandeln konnte. Vor gut zehn Jahren nahm er erstmals ein einem Studio professionell auf und veröffentlichte 2012 sein Debütalbum „Just Before Music“. Vier weitere sollten folgen, wobei vor allem sein 2020er-Output „National Freedom“ in den USA für Aufregung und Verbundenheit sorgte.

„Um anders zu sein, muss man mental anders ticken als die anderen“, erzählt Holley im „Krone“-Gespräch, „ich war schon immer außerhalb der Norm. Meine Art von Kunst ist für Regisseure, Museen oder Kuratoren nur schwer zu erfassen. Bei mir sollte man immer das große Ganze sehen, als sich nur um die jeweiligen Details zu kümmern.“ Mittlerweile ist Holley in der Musikwelt eine Fixkonstante und globaler Stammgast bei liebevoll zusammengestellten Art- und Indie-Festivals wie etwa dem Kremser „Donaufestival“, dem er 2019 seine Aufwartung machte. Sein neuester Streich nennt sich „Broken Mirror: A Selfie Reflection“, ist eine Zusammenarbeit mit dem aus Virginia stammenden Produzenten und Musiker Matthew E. White und, wie könnte es bei Holley anders sein, wieder einmal dem Zufall geschuldet. White arbeitete gewissenhaft an seinem kommenden September erscheinenden Soloalbum „K Bay“ und bemerkte währenddessen, dass manche Songs nicht so ganz in den Gesamtkanon passen würden. So erinnerte er sich an Holley, mit dem er ein paar Mal die Bühne und Interessen teilte und bat ihn, über die instrumentalen Songfragmente zu singen.

Abfahrt der Klang-Derivate
Holley hörte rein, proklamierte die Bilder, die die Klänge ihn ihm hervorriefen und nahm seine Vocals auf dem fünf Songs und etwa 40 Minuten starken Werk in nur vier Stunden auf. Manchmal zog er sein Notizbuch voll lyrischer Ideen zu Rate und sang komplette erste Takes über eine Musik, die er nie zuvor hörte. Leichte Overdubs und ein paar minimale Bearbeitungen später war das ungewöhnliche Kooperationswerk fertiggestellt und weit mehr als nur eine Corona-Verlegenheitsgeburt. Ganz im Gegenteil, die künstlerische Kooperation der beiden so divers scheinenden Vollblutkünstler hat eine besonders kräftige, aber sehr unbewusste Stringenz, die „Broken Mirror“ zu einem besonders spannenden Kleinod der Urban-Jungle-Indie-Szene macht. Zwischen galaktischem Jazz, Krautrock, 70s-Prog-Affinität und wilder Beat-Staffeleien rückt Holleys zerbrechliche, meist religiöse Stimme die Songs in ein besonders esoterisches Licht.

Inhaltlich geht es Holley meist darum, wie sich die Zwischenmenschlichkeit zuungunsten von Social-Media-Plattformen und Smartphones immer mehr ins Abseits drängt. Anstatt aber eine mediokre Boomer-Kritik vom Stapel zu lassen, spürt man den echten und ehrlichen Schmerz Holleys, dessen Spiritualität schon immer sehr stark mit der Natur und dem Planeten Erde in Verbindung ist. „Wir leben auf einem sehr wackeligen Untergrund. Die Erde bewegt sich konstant und zerstört sich immer wieder, um sich neu aufzubauen. Wenn sich aber niemand um die Welt kümmert, dann wird sie sich auch nicht um uns kümmern.“ Rein musikalisch baut Holley auf seine üblichen Stärken. „Improvisation ist der Schlüssel für meine Musik und die Kunst im Allgemeinen. Ich weiß oft nicht, welche Note ich singe, habe aber immer das richtige Gefühl. Ich war 30 Jahre lang pleite, niemand hat sich für meine Kunst oder Musik von mir interessiert. Für mich war das, was ich tat, trotzdem immer richtig. In meinem Geist bin ich für mich perfekt, auch wenn das andere nicht so sehen.“

Seelenretter Kunst
Holley ist nicht nur ob seiner desaströsen Kindheit und den Qualen der Vergangenheit jemand, der Musik als eine Plattform für Zusammenkunft, Toleranz und Frieden sieht. „Ich bin überzeugt davon, dass die Kunst Seelen retten kann. Sie kann heilen und erziehen, bilden und erfreuen und sie hat die schiere Kraft, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Man muss aber auch den Willen haben, die Kunst tun zu lassen und sich selbst als das zu sehen, was man maximal ist: ein Werkzeug.“ Holley mag zwar 71 sein, in der künstlerischen Hemisphäre Amerikas und zunehmend auch Europas ist das Multitalent im Herbst seines Lebens aber so beliebt und begehrt wie selten zuvor. Holley kreiert auch weiterhin seine musikalischen Plastiken und lässt sich den Weg nicht vorgeben. Das Treiben im Sein als Sinnbild für die Kunst und den inneren Frieden. „Wir alle werden mit dem Wissen geboren, dass wir irgendwann sterben müssen. Wir arbeiten das ganze Leben lang, um am Ende die Chimäre der Freiheit zu spüren. Nützt die Zeit, holt das Maximum aus ihr raus.“ Zum Beispiel mit dem Hören von „Broken Mirror“, dieser spannenden und einzigartigen Achterbahnfahrt der Klänge.

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