Einwanderungs-Ländle

„Mein Lehrer nannte mich Ausländerkind“

Vorarlberg
13.04.2021 10:00

Vorarlberg - ein Wirtschaftswunderländle aus eigener Kraft? Aktionstheater-Regisseur Martin Gruber schaut genauer hin - und findet jede Menge ausländische Manpower.

Krone: Sie sind in Vorarlberg aufgewachsen, in Ihrem Pass steht aber, dass Sie italienischer Staatsbürger sind. Hat das jemals einen Unterschied für Sie gemacht?
Gruber: Meine Mutter ist eine sogenannte Ur-Vorarlbergerin, bei meiner Sozialisation wurde das Vorarlbergerische also bedient. Bis zum EU-Beitritt Österreichs musste ich regelmäßig aufs Amt, um meine Aufenthaltsbewilligung zu verlängern. Dort habe ich immer wieder recht absurde Situationen erlebt.

Welche?
Nun ja, ich stand da mit einigen anderen Nicht-Österreicher*innen an und wurde - wenn ich im breiten Vorarlberger Dialekt gesprochen habe - sehr gut behandelt. Mit der Frau neben mir, die ein Kopftuch getragen hat, sprach man automatisch in Infantil-Sprache. Das alles war also nicht uninteressant.

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Ich kann mich gut an meinen ersten Schultag erinnern. Unser Lehrer erklärte uns, dass wir auch ein „Ausländerkind“ in der Klasse hätten

Martin Gruber

Und Sie selbst gerieten nie in den „Ausländer-Radar“ eines Ur-Österreichers?
Ich kann mich gut an meinen ersten Schultag erinnern. Unser Lehrer erklärte uns, dass wir auch ein „Ausländerkind“ in der Klasse hätten - und dieses Kind solle jetzt bitte aufzeigen. Ich sah mich um, fand aber kein Kind, das die Hand gehoben hätte. Als der Lehrer dann meinen Namen vorlas, wusste ich, dass ich gemeint war, ich habe das aber gar nicht verstanden. Zuhause habe ich meiner Mutter geklagt, dass der Lehrer mich „Ausländerkind“ nennt. Da fragt man sich natürlich, wer so etwas überhaupt definiert.

Die Geschichte der italienischen Zuwanderer nach Vorarlberg begann bereits im 19. Jahrhundert. Spielt das heute noch eine Rolle?
Als Beispiel für Migration spielt diese Geschichte eine sehr spannende Rolle. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wanderten die Trentiner ein. Diese wurden als Arbeitskräfte beim Eisenbahnbau und in der Textilindustrie eingesetzt. Hört man heute einen trentinischen Namen wie Bertolini, denkt man wohl nicht sofort an einen Migrationshintergrund, sondern eher an ein ehemaliges Dornbirner Modehaus. In Wirklichkeit aber durften die Trentiner damals mitunter nicht einmal dieselbe katholische Messe besuchen wie die Einheimischen. Später kamen dann Menschen aus Südtirol, noch später Steirer und Kärntner. In den 60er- und 70er-Jahren waren es Türken und Jugoslawen. Und bei all diesen Migrationswellen stand eines meist im Vordergrund: Vorurteile. Für die 100-Jahr-Feier von Dornbirn, die ich inszenieren durfte, habe ich Interviews mit Menschen mit Migrationshintergrund geführt. Da wurde mir erzählt, dass es in manchen von Textilfabrikanten zur Verfügung gestellten Arbeiterbehausungen keine Heizung und kein Warmwasser gab. Gerne darüber gesprochen hat aber niemand. Die einen aus Scham und die anderen, die „Natives“, wollten das Thema natürlich auch nicht vertiefen. Wir haben dann aber doch die Interviews, eingebettet in schöne Chorgesänge, laut am Marktplatz abgespielt. Es muss klar sein, dass der Wohlstand Vorarlbergs ohne Migration nicht möglich gewesen wäre. Und in diesem Zusammenhang schmerzen die üblen Klischees über „die Ausländer“ ganz besonders. Sich selbst hat man, salopp gesagt, als anständig und fleißig hingestellt - und sich so über die Exklusion der anderen definiert.

Die Vorarlberger Bewerbung zur Kulturhauptstadt 2024 hat sich dem Thema „Mutausbruch“ gewidmet. Wäre es mutig gewesen, das Thema Migration in Vorarlberg aufzugreifen - auch als Beispiel für Europa?
Ja, das wäre relevant gewesen. Weil dieses Thema viel mit Eigendefinition zu tun hat. Wenn man sich schon als Kulturhauptstadt bewirbt, dann muss auch gefragt werden dürfen, was Kultur eigentlich ist? Hat das nicht auch mit dem Zusammenleben zu tun? Die Kultur der Exklusion ist jedenfalls eine schwierige. Das zu untersuchen, wäre ein spannender künstlerischer Prozess gewesen. Kultur wird von allen Bewohnern und Bewohnerinnen eines Landes geprägt.

Die Flüchtlingssituation in den Jahren 2015/16 hat das Thema Zuwanderung nochmals neu befeuert. Wie haben Sie das erlebt?
Das schwingt bis heute mit. Ein Blick auf die demographische Situation Österreichs zeigt: Die Babyboomer gehen bald in Pension, der Arbeitskräftemangel wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Vor hundert Jahren hat es ausländische Arbeitskräfte gebraucht, um das Land prosperieren zu lassen - und genau die gleiche Situation haben wir jetzt. Ohne Zuwanderung kann es nicht klappen. Deswegen würde es sich empfehlen, intelligent mit dem Thema umzugehen.

Damals wurde viel über die sogenannte Leitkultur und über die Willkommenskultur gesprochen.
Ja, die „Leitkultur“, was soll das eigentlich sein? Welche sind die Werte, auf die wir uns einigen können? Darüber wurde nie ernsthaft diskutiert. Stattdessen wurden die üblichen Stereotypen bedient. Auch der Willkommenskultur hätte eine Diskussion nicht geschadet. Die Sprache etwa ist wohl eine der grundlegendsten Kulturtechniken. Aber was wurde angeboten, um diese Technik erlernen zu können? In anderen Ländern funktioniert das. Aber bei einem katastrophalen Bildungssystem, das nur die Elite bedient, wird das natürlich schwierig. Migration wird oft nicht als Bereicherung gesehen, es wird keine Form eines Miteinanders etabliert. Migration kann auch als Bedrohung gesehen werden - teilweise auch zu Recht -, aber das darf nicht der Hauptfokus sein. Hauptfokus muss die Chance sein.

Wie lässt sich dieses Miteinander etablieren?
Mit einem 20-Stunden Kurs jedenfalls nicht. In Kanada werden Migrant*innen in einem Patenschaftsmodell jeweils einem Kanadier oder einer Kanadierin zugeteilt. Der oder die weist sie dann in die Gesellschaft ein. Es wird dem Gegenüber also erst einmal vertraut. Wenn aber von vornherein nicht das Gefühl vermittelt wird, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft werden zu können, dann ist die Protzerei eines jungen Mannes mit Migrationshintergrund mit einem fetten BMW noch die harmloseste Folge. Der Rückzug auf eine stark vereinfachte Religion, auf Unterdrückung, ist dann nicht mehr harmlos. Aber es liegt natürlich nicht nur am Gastgeberland, Integration ist keine Einbahnstraße - in keine Richtung.

Einigen Communities wird vorgeworfen, in Österreich in einer Art Parallelwelt zu leben. Ist das schlimm?
Ja. Die Menschen ziehen sich in die eigene Diaspora zurück, wenn sie sich nicht angenommen fühlen. Die Fragen sind: Was nährt mich, wo erfahre ich Unterstützung, wo werde ich geschätzt? Wird man nur mit Stereotypen behaftet, ist doch klar, dass man dort hingeht, wo man sich geborgen fühlt. Und genau dort findet man dann plötzlich Erdogan ganz toll. Wie gesagt, es liegt nicht nur am Gastgeberland, aber ich kann hier ja nur über unsere Aufgabe und unsere Fehler sprechen, nicht die der anderen. Dass ein Rückgriff auf ein simplifiziertes, reaktionär patriarchales Religionsbild beschissen ist, darf man sagen. Aber nur dann, wenn man sämtliche Phänomene von allen Seiten betrachtet.

Warum ist es so einfach, mit dem Thema Migration politisches Kleingeld zu schlagen?
Es ist eben so viel einfacher, ein Feindbild zu definieren, als hochkomplexe Zusammenhänge zu erklären. Das ist simpel, praktisch und geht wahnsinnig schnell. Man muss sich dann auch nicht mehr hinterfragen. Das wurde immer schon gemacht, und man war damit immer erfolgreich - freilich nur kurzfristig. In Österreich macht es natürlich fassungslos, dass das immer noch funktioniert - bei unserer Geschichte. Hier hat man es mit der Aufarbeitung längst nicht so genau genommen wie in Deutschland - und das hat wohl mit der Anschlusslüge zu tun.

Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn sie eher auf Exklusion statt auf Inklusion setzt?
Dann ist es mit der Demokratie in dieser Gesellschaft noch nicht weit her. Je stärker eine Gesellschaft Diversität zulässt, desto gesünder ist sie, übrigens auch wirtschaftlich. Je mehr nur für das - vermeintliche - Wohl einer Mehrheitsgesellschaft Politik gemacht wird, desto schneller geht’s in Richtung autoritärer Staat.

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Das Prosperieren des Landes hat sehr viel mit der Migration zu tun, davor war Vorarlberg bitterarm.

Martin Gruber

Noch ein genauerer Blick auf Vorarlberg: Ist das Ländle wirklich so anders, wie es immer heißt?
Auch Klischees tragen manchmal ein Stück Wahrheit in sich, eines davon ist jenes vom Pragmatismus. In Vorarlberg vernehme ich weniger rigide Töne als etwa auf Bundesebene. Das sah man auch bei den Abschiebungen. Ein weniger stimmiges Klischee ist wohl jenes des „Alemannentums“: Die fleißigen Vorarlberger, die das Land zum Blühen gebracht haben. Das Prosperieren des Landes hat sehr viel mit der Migration zu tun, davor war Vorarlberg bitterarm.

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