Interview & Album

Tindersticks: „Das Album vermittelt Hoffnung“

Musik
17.02.2021 06:00

Tindersticks-Mastermind Stuart A. Staples nutzte die Zeit der erzwungenen Live-Pause, um nur ein gutes Jahr nach dem letzten Werk mit „Distractions“ ein neues Album nachzulegen. Dahinter steckt aber viel mehr als eine Mischung aus herausragenden Eigenkompositionen und bewusst gewählten Coversongs. Das und vieles mehr verrät uns der Wahl-Franzose aus Nottingham im ausführlichen Gespräch.

(Bild: kmm)

„Krone“: Stuart, wie hast du das letzte wirklich prekäre Jahr verbracht und überlebt?
Stuart A. Staples:
Die meiste Zeit habe ich dafür verwendet, am Album „Distractions“ zu arbeiten. (lacht) Etwas Kreatives mit der vielen Zeit anzufangen war gar nicht so einfach, denn so ein Album unter diesen Bedingungen zu machen war schwierig. Ich finde, den Wunsch nach Normalität kann man dem Album anhören. Ich fühlte den Drang, dieses Werk so schnell wie möglich fertigzustellen. Jetzt habe ich etwas Distanz zum Album und habe das Gefühl, es war die richtige Entscheidung, diesen Weg zu gehen.

Du hast im Vorfeld schon bekräftigt, dass „Distractions“ definitiv kein Lockdown-Album sei. Das klingt jetzt etwas widersprüchlich.
Ich wollte in erster Linie nicht, dass das Album als eine Antwort auf die Pandemie betrachtet wird. Der Effekt aus dieser Pandemie ist auf dem Album aber sehr präsent. Am ersten und letzten Song habe ich im Jänner 2020 gearbeitet, bevor ich auf Tour ging. Die Tour wurde dann zur Hälfte abgebrochen und dadurch hatten wir noch viel Energie in der Band, die plötzlich abrupt gestoppt wurde. Wir fühlten den Drang, diese Konversation zwischen uns weiterzuführen und wurden dann von Corona erschlagen. All diese Dinge haben schlussendlich zu „Distractions“ gefunden. Man kann so einer Situation wie der Covid-Pandemie ohnehin nicht auskommen, aber das Album spielt nicht auf sie an - auch wenn sie ein Teil davon ist.

Gehen wir zurück zum letzten Tindersticks-Album „No Treasure But Hope“ - ist in Zeiten wie diesen Hoffnung überhaupt noch möglich, wenn wir uns Pandemie, politische Strömungen, gesellschaftliche Umbrüche und dergleichen anschauen?
Aber was bleibt uns sonst? Die Hoffnung verlieren wir als letztes, also klammern wir uns immer dran. Wenn wir die Hoffnung verlieren, dann bliebe uns nur noch Verzweiflung. Ohne das Gefühl von Hoffnung würde ich überhaupt nichts mehr erzeugen können. Ich habe quasi noch nie Musik ohne den Gedanken von Hoffnung erschaffen. Und die wirklich seltenen Momente, wo das vorkam, die habe ich noch sehr gut, nämlich schlecht, in Erinnerung.

Die zwei Alben sind im Endeffekt nur etwas mehr als ein Jahr auseinander. Besteht ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen „No Treasure But Hope“ und „Distractions“?
Die Alben sind sehr unterschiedlich, aber „No Treasure But Hope“ war das Album, das eine Arbeitslinie losgetreten hat. In den letzten fünf bis sechs Jahren haben wir für einen experimentellen Film gearbeitet, auf Elektronik gesetzt und ich habe ein Soloalbum gemacht. Dann gab es noch den Soundtrack für „High Life“ von Claire Denis. Für „No Treasure But Hope“ musste ich diese Linie der Außenprojekte unterbrechen und als Band haben wir in diesem Sinne gut drei Jahre nicht mehr zusammengearbeitet. Ich habe mich wieder ans Piano gesetzt und wollte ein naturalistischeres, traditionelleres Album komponieren. Das war sehr erfrischend, einmal nicht dauernd zu experimentieren und etwas völlig Neues zu finden. Die zwei Alben haben aber eine Beziehung zueinander. „No Treasure But Hope“ hat mich gelehrt, dass eine gewisse Kürze und Prägnanz in Kompositionen gut tut. Die Songs waren immer für eine Liveumsetzung gedacht, also musste ich im Entstehungsprozess so schreiben, dass ich jede Silbe und jede Zeile verstehe, um sie authentisch wiederbringen zu können. Diese Art des Arbeitens habe ich auf „Distractions“ weitergeführt. Ich war rigoroser beim Ausarbeiten der Songs. „Distractions“ ist ein sehr schlankes Album. Es gibt keine Klangschichten oder zusätzlichen Verzierungen. Jede Note, die auf dem Album gespielt ist, hat im jeweiligen Moment etwas zu sagen.

Hat der Albumtitel vielleicht auch damit zu tun, dass du als Songwriter und Komponist manchmal abgelenkt wirst?
Um in der Pandemie Musik zu erschaffen, musst du der Realität entfliehen. Du musst träumen und schwelgen und Musik heißt für mich, Abenteuer zu entdecken. Man muss spielerisch vorgehen und auch wenn du ernst schreibst und seriös arbeitest, brauchst du spielerische Leichtigkeit. Man muss sich von der Realität befreien, um in die Musik eintauchen zu können. Auf diesem Album war der Gedanke sehr gegenwärtig, weil ich hart für diese Freiheit gekämpft habe. Schon die Kreativität alleine ist ja eine Ablenkung von der Welt, in der wir uns befinden. Ich habe das Album nicht danach benannt, aber es gibt einen Zusammenhang. Im letzten Song „The Bough Bends“ gibt es die Zeile „distractions have been pulled away from the thing that you really should be engaging“. Diese Zeile wurde dann zu meinem Leitmotiv für das Album.

„Distractions“ weist schon zu Beginn den elfminütigen Song „Man Alone (Can’t Stop The Fadin‘)“ auf, eine von vielen Überraschungen und der längste Tindersticks-Song bisher. Ist er ein Statement gegen die Schnelllebigkeit der modernen Popkultur und dem ständigen Suchen nach dem Drei-Minuten-Hit für die immer kürzer werdende Aufmerksamkeitsspanne?
Ich glaube nicht, dass man Musik mit gewissen Regeln erschaffen kann. Wenn mir jemand sagen würde, ein Song müsste so und so lang sein und zu diesem Zeitpunkt einen Refrain aufweisen, würde ich nicht mehr zuhören. Ich verschwende daran keinen Gedanken, aber auch nicht daran, ein Gegenstatement zu setzen. Kreativität und Ideen kommen und gehen, wie sie wollen. Wenn sie da sind, muss man zuhören, sie realisieren und bestmöglich umsetzen. Mehr kann man nicht machen. In elf Minuten kriegt man natürlich spezielle Strukturen rein, aber ich bin von jedem Moment dieser Songlänge überzeugt. Der Prozess war sehr lang und ergiebig und auch wenn der Song vielleicht nicht überall gut ankommt, jeder Teil darin hat seinen Grund. Ich bin der Idee gefolgt, die mir kam und habe mir nie überlegt, etwas zu kürzen oder zu ändern. Ich habe mich ausgelebt und nun ist mein Job und ich kann weitergehen. Ich habe acht Monate an „Man Alone“ gedacht, aber jetzt bin ich frei und der Song steht genau so da, wie er soll.

Wäre das nicht ein wunderbarer, ausladender Opener für ein Liveset, wenn das Touren mal wieder möglich ist?
(lacht) Ich bin mir nicht so sicher. Wir haben „No Treasure But Hope“ ganz anders aufgenommen. Als Band. Zusammen im Studio live eingespielt, daran gebastelt und für die Liveumsetzung geplant. So, wie man es üblicherweise bei einem Album macht. Wenn man ein Album schreibt, soll es auch auf der Bühne stark rüberkommen. Ich habe bei „Distractions“ niemals ans Livespielen gedacht und das war eine wundervolle, neue Freiheit. Ich will nicht sagen, dass ich ab jetzt immer so denken werde, aber diese geistige Befreiung war sehr gesund für mich. Ich habe auf dem neuen Album eine Art von Freiheit gefunden, die mir den Druck der Performance nimmt. Auch beim Einsingen habe ich nie an die Liveshow gedacht und bin deshalb ganz anders an die Sache rangegangen. Die Band war nicht im Studio und hat nicht auf ihren Einsatz gewartet - ich war allein.

Hat sich diese Arbeitsweise so angenehm angefühlt, dass du sie künftig wieder so umsetzen möchtest?
Ich glaube das ist eine perfekte Zeitaufnahme dieser speziellen Gegenwart. „No Treasure But Hope“ war das erzählerischste Album meiner Karriere. Ich habe textlich sehr darauf geachtet, was ich sage und dass die Geschichten zusammenhängen. Bei „Distractions“ sind die Texte abstrakt und impressionistisch. Alles ist sehr mehrdeutig und ich habe darauf geachtet, das Gefühl der Worte herauszuheben. Es gibt keine geraden Linien, die von Songbeginn bis zum Ende gehen. Alles verändert sich immer wieder, schlägt neue Kurven oder geht wieder zurück. Ich hatte dieses Mal den Denkansatz, dass sich die Komposition und die Worte in verschiedenen Arten entfalten sollten.

Auf „Distractions“ hast du Eigenkompositionen mit sehr interessanten Cover-Songs vermischt. Etwa Neil Youngs 1972er Song „A Man Needs A Maid“. Eine Nummer, die dich schon Jahre verfolgt, aber offenbar erst jetzt wirklich fertig wurde.
Wir haben den Song oft in Soundchecks gespielt und einmal, glaube ich, in Rom. Der Song war irgendwie immer da und hat uns gefunden. Immer wenn wir ein Album schreiben, haben wir zu viele Songs und zu viele Ideen. Wir müssen dann kürzen und aussortieren in einer demokratischen Art und Weise, ohne dass das Album und die Beziehung darunter leiden. Ich hatte die Anordnung schon lange im Kopf. Das Album beginnt mit „Man Alone“, geht dann über in „I Imagine You“ und dann kommt der Young-Song, weil er einfach perfekt in diese Klanglandschaft passt. Er eröffnet quasi ein neues Unterkapitel von „Distractions“. Ab diesem Song bekommt das Album einen neuen Drive und das war mir wichtig auszudrücken. Es war sehr schwer, diesen Song zu finden, aber jetzt ist er wohl auch mein Favorit. Ich habe mich aber lange damit abgeärgert, weil ich schon dachte, ich kriege ich schon wieder nirgends unter. (lacht)

Danach folgt das Cover „Lady With The Braid“. Ein Song, der für dich wohl nostalgisch wirkt und in deine jungen Jahre zurückreicht.
In gewisser Weise. Ich hat einen sehr inspirierenden Englischlehrer in der Schule und er war auch sehr musikinteressiert. Ich borgte ihm damals ein Album von Joy Division und als er es mir zurückgab, meinte er, ich würde ganz sicher Dory Previn mögen. Ich hatte natürlich keine Ahnung, wer das ist. (lacht) Ich habe sie sofort ausgecheckt und sie war schon damals extremer Underground. Vor ungefähr 15 Jahren bin ich dann so richtig in sie reingekippt und dieser Song ist großartig. Ich hoffe sehr, dass wir ihm gerecht werden, denn das Original handelt von Verzweiflung, aber in einem so hellen, optimistischen und humoristischen Sinne, dass der Song unvergleichbar ist. Diesen sehr weiblichen Song zu singen, sich wirklich dort reinzulegen, war ein sehr besonderes Gefühl.

Auch kein weltbekannter, weitreichender Hit war „You’ll Have To Scream Louder“ aus dem Jahr 1984 von Television Personalities. Ist das ein Song mit einer zeitlosen Botschaft gegen Sexismus, Rassismus und all die anderen furchtbaren Strömungen, die nicht abreißen wollen?
Ich habe den Song nicht ausgesucht, das ging eher umgekehrt. Der Song sitzt so tief in mir, seit ich ungefähr 19 Jahre alt bin. Das ganze Album „The Painted Word“ der Television Personalities ist so voller großartiger Songs, die wir alle hätten covern können. Ende April 2020 waren wir für knapp zwei Monate im Lockdown und zu dieser Zeit ging wirklich viel ab auf der Welt. Ich habe mich da irgendwie in die 80er-Jahre zurückfantasiert, aber nicht, weil ich träumte, sondern weil plötzlich dieser Song aus mir heraussprudelte. Ich habe angefangen zu singen und er hat so viel mit meinen Gefühlen in diesem Moment zu tun. Die Kraft, die der feige Mord an George Floyd in den USA ausgelöst hat. Die Pandemie, die die ganze Welt verändert. Das Gefühl, ein in Frankreich lebender Brite zu sein, der Brite und Europäer ist, aber sich wegen des Brexit in dieser Rolle nicht mehr wohlfühlt. Ich musste diese Gefühle rauslassen und das ging mit diesem Song am besten. Es war wie eine direkte emotionale Antwort auf mein Gefühle. Ich konnte das gar nicht kontrollieren.

Du lebst schon lange im französischen Limousin, aber wie blickst du der Zukunft entgegen, wo Künstler aus dem erfolgreichen Exportland England nur mehr mit eigenen Visa und unter schwersten Zusatzbedingungen am europäischen Festland auftreten können? Es quasi für viele unmöglich wird, normal zu touren?
Das ist ein Teil von etwas Größerem. Ich bin damals nach Frankreich gezogen, weil wir uns als Familie als Europäer fühlten - was natürlich immer noch so ist. Als wir auf das Festland zogen, war das eine Erleichterung. Ich liebe England und die Menschen dort. Ich habe viele tolle Freunde, aber es ist auch logistisch alles viel leichter von Frankreich aus. Ich kann in sechs Stunden in die Alpen oder nach Barcelona fahren. In zwei Stunden bin ich in Paris und via Zug in Venedig. Ich fühle mich so verbundener und das hat mir immer gefallen. So sehr ich England und die Briten mag, wir sind eine Insel und das verkompliziert sehr vieles. Der Brexit hat offenbar für viele Menschen Sinn gemacht. Wir hatten immer das Meer um uns herum, wohingegen die Europäer stets mit Nachbarn zu tun hatten, die direkt angrenzen. Man musste immer Wege finden, um Lösungen zu finden oder zu verhandeln. Oder um ihre Grenzen kulturell zu verteidigen. Das haben die Briten nie gelernt und deshalb kam wohl auch dieses Ergebnis heraus. Die Frage ist viel größer, als wie leicht oder schwer es ist, irgendwo Musik zu spielen. Wo bist du daheim? Wo passt du rein? Wo fühlst du dich wohl? Das ist alles nicht so leicht zu beantworten.

Ein Statement des Zusammenhalts und der Verbundenheit ist auf „Distractions“ der Song „Tue-Moi“, der zum furchtbaren terroristischen Anschlag im Pariser Bataclan 2015 zurückgeht. Ist das eine Hommage an deine Wahlheimat und einen geliebten Club?
Ich sehe das Lied mehr als menschliche Antwort auf eine furchtbare Begebenheit. Der Song dreht sich nicht per se um das Attentat im Bataclan, aber natürlich hat mich dieses Attentat extrem getroffen. Ich kenne den Club so gut, dass ich ihm extrem nah stand, als es passierte. Es war nicht so, als würde ich das in einer Zeitung lesen oder in den Nachrichten sehen, sondern mittendrin sein. Der Song floss aus mir raus, weil die Idee schon lange in mir lag. „Tue-Moi“ ist eher eine menschliche Antwort auf diesen Glauben, dass sich jemand für etwas Höheres opfern muss. Für einen höheren Zweck, der über ihm selbst steht. Ich will keine Geschichte erzählen und nicht werten, sondern eher die Intimität zwischen zwei Personen in einer Extremsituation beleuchten.

Was sollen die Leute denn fühlen, wenn sie sich „Distractions“ zu Gemüte führen?
Ich wollte nie, dass jemand etwas Spezifisches aus unserer Musik heraushört. Es hat immer mit den eigenen Erfahrungen und Erwartungen des Hörers zu tun. Um die Verbindung des Menschen zu einem Song. Viele Leute haben mir gesagt, dieser oder jener Song wäre über sie selbst. (lacht) Das amüsiert mich immer, weil ich natürlich nie daran dachte, aber es ist auch total okay, denn ich will den Song ja gerne weitergeben. In der Musik muss es genug Raum für den Hörer und seine Eigeninterpretation geben. In diesen Räumen findest du die Verbindung zur Musik. Mit etwas Distanz merke ich, dass „Distractions“ in einer wirklich harten Zeit entstand. In gewisser Weise ist das Album ein kreatives Resultat aus dieser Zeit und ich hoffe, dass es positive Schwingungen vermittelt. Es ist ein verträumtes Album, das nach draußen schaut und Hoffnung schöpft. Vielleicht ist es sogar kraftvoller als andere, weil es unter schwierigen Bedingungen entstand. Mein Wunsch wäre, dass die Leute das Album auch so positiv annehmen können, wie es klingt. Wir fühlen uns derzeit irgendwie von der Welt verraten und „Distractions“ soll uns Halt geben. Das wäre mein größter Wunsch.

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