Instrumentalisiert

Wie die Politik durch Corona zur PR wurde

Vorarlberg
26.12.2020 06:30

Michael Diettrich, Sprecher der Armutskonferenz, blickt auf das Jahr 2020 zurück und verurteilt die Politik scharf für die Instrumentalisierung des Coronavirus. Dabei blieben drängende Fragen auf der Strecke.

Er ist einer der wenigen, die es wagen, die Dinge beim Namen zu nennen. Gerade dann, wenn es sich um unangenehme Dinge handelt: Wirtschaftsabschwung, Armutsgefährdung, Polit-PR. Mit der „Krone“ warf Michael Diettrich einen Blick zurück auf das Jahr 2020.

Einige von uns sind optimistisch ins Jahr 2020 gegangen, andere zumindest neutral. Dann kam Corona und damit eine Menge Veränderungen auch im gesellschaftlichen Gefüge. Wie war denn Ihr Start in das Jahr 2020?

Man hat das zwar schöngefärbt, aber schon Anfang des Jahres war ganz klar, dass es wirtschaftlich bergab geht. Es war also zu erwarten, dass auf den Arbeitsmarkt und auf Menschen mit niedrigen Einkommen schwere Zeiten zukommen werden. Corona hat dann alles noch einmal durcheinandergewirbelt. Rückblickend lässt sich sagen: Das, was wir in den letzten zehn Jahren nach der Finanzkrise wirtschaftlich und sozial aufgeholt haben, ist durch die Corona-Krise wieder rückgängig gemacht worden. Das ist ein Drama, das uns ganz unabhängig von Impfstoffen noch Jahre begleiten wird.

Wie lange werden wir an den Negativfolgen noch arbeiten müssen?

Ich bin skeptisch all diesen frohen Botschaften gegenüber, dass wir im nächsten Jahr die Impfung haben werden und dann im Herbst alles besser wird. Selbst wenn der Impfstoff wirkt, wird sich bis 2022 nicht viel ändern. Wir werden weiter Maske tragen und andere Einschränkungen haben. Und selbst, wenn das gesellschaftliche Leben wieder in Gang kommt, werden wir wohl drei, vier Jahre für eine Erholung brauchen.

Sie haben vor Jahren schon darauf hingewiesen, dass die wirtschaftliche Situation keine rosige mehr ist und dafür viele Menschen bezahlen müssten. Was hat die Politik vor Corona verabsäumt?

Da die private Wirtschaft wenig investiert hat, hätte das staatlicherseits passieren müssen. Im Zusammenhang mit dem Klimaschutz wäre das sinnvoll und möglich gewesen, aber man hat lieber gespart. Weil man meinte, die Schulden würden kommende Generationen belasten. Ich behaupte, dass das, was wir uns erspart haben, die kommenden Generationen viel stärker belasten wird als Schulden. Die Sparpolitik war völlig unangemessen und hat zu einer viel zu schleppenden Erholung von der Finanzkrise geführt. Die Rede davon, dass wir jetzt einen Aufschwung von zehn Jahren hatten, ist ein Witz. Zwischendurch hatten wir null Prozent Wachstum. In den Jahren 2017/18 war es durchschnittlich, dann ging es wieder zurück und durch Corona ist es am Boden gelandet. Wir fangen jetzt wieder bei null an.

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Die Rede davon, dass wir jetzt einen Aufschwung von zehn Jahren hatten, ist ein Witz. Zwischendurch hatten wir null Prozent Wachstum.

Michael Diettrich

Nach einem Jahr Corona: Wie beurteilen Sie die politische Performance?

Als katastrophal. Bis zum Ende des ersten Lockdowns ist die Politik recht sachorientiert gewesen. Danach ist das Virus politisiert worden, man hat etwa auf Angstmache gesetzt. Ein Ergebnis davon ist, dass die Massentests Anfang Dezember nicht den erwarteten Erfolg hatten. 30 Prozent sind in Vorarlberg kein Erfolg, das war ein Schuss in den Ofen. Warum? Weil viele den Äußerungen der Politik nicht mehr vertrauen: „Das Licht am Ende des Tunnels“ oder „Es gibt sicher keinen neuen Lockdown“. 14 Tage später hatten wir den Lockdown II. Das ist doch unglaublich. Ich sehe das auch als Problem in Bezug auf die Impfungen.

Inwiefern?

Der Leiter des Robert Koch Instituts hat das Dilemma beschrieben: Auf die Frage, ob nun die Impfung kommt, sagte er: „Wir wissen zwar nicht, was sie bewirkt und wie sie wirkt, aber sie wird kommen.“ Ganz Österreich hofft auf die Impfung. Aber offen ist, ob die Impfung eine Infektion verhindert oder nur eine Erkrankung. Wenn sie die Infektion nicht verhindert, wird es die künstliche Herdenimmunität nie geben. Das sind offene Fragen. Und die Verunsicherung wird weiter Bestand haben, selbst bei Maßnahmen, die sinnvoll sind. Die Politik der Bundesregierung im Speziellen war katastrophal.

Man hatte mitunter den Eindruck, dass der Bundeskanzler nicht mit mündigen Bürgern spricht, sondern mit Kindern.

Das sehe ich auch so. Noch dazu waren viele seiner Aussagen einfach falsch oder von Unkenntnis gekennzeichnet. Und anstatt sich mit Banalitäten wie der Maskenpflicht für Schüler auseinanderzusetzen, hätte man sich darum kümmern müssen, die wirklich gefährdeten Menschen zu schützen, also jene in den Pflegeheimen. Dem hätte man sich schon im Sommer zuwenden sollen - das ist entscheidend. Gleiches gilt für Informationen: Ich werde bald 66. Ich gehöre zur Risikogruppe. Aber welche Infos habe ich eigentlich bekommen, wie ich mich schützen kann? Genau die gleichen wie jeder 19-Jährige mit geringem Risiko. Warum hat man sich nicht überlegt, was man wem empfehlen muss? Auf die Frage, wie sich ein Risikogruppenmitglied schützen kann, ohne dabei völlig zu vereinsamen, hat die Politik keine Antwort gegeben. Die Public-Relations-Maschine der Bundesregierung läuft sonst perfekt, aber zu diesen konkreten Fragen gab es keine Antworten. Jetzt verschickt man per Post wenigstens FFP2-Masken, doch können viele ältere Menschen diese gar nicht tragen, weil sie dann Atemprobleme bekommen. Das heißt doch, dass es eigentlich Masken für die Menschen braucht, die die Älteren besuchen. Solche „Kleinigkeiten“ haben große Relevanz.

2020 war auch das Jahr der vielbeschworenen Solidarität. Nicht nur, aber auch im Zusammenhang mit Jugendlichen. Wie steht es denn um die Solidarität?

Mein Teil der Solidarität ist, dass ich bei diesem Interview zum Beispiel Maske trage. Dass ich mich schütze und gleichzeitig auch andere. Gewissenhaftigkeit ist hier wichtig. Oft ist der Begriff Solidarität auch überstrapaziert worden. Man kann Jugendlichen nicht ein halbes Jahr lang Partys verbieten. Feten sind ja tatsächlich ein Problem, aber man hätte ins Kalkül ziehen müssen, dass sich Jugendlichen eben nicht an alles halten werden. Anstatt die Jugend an den Pranger zu stellen, hätte man sich überlegen müssen, wie man andere schützen kann. Und was komplett außer Acht gelassen wird, sind die Schäden, die den Jugendlichen durch die Schulschließungen entstehen. Wir hinterlassen ihnen deutlich weniger Bildung. In manchen Ländern sank die Lernleistung im Schnitt um 20 Prozent! Und der Zusammenhang zwischen Bildungsstand und Lebenserwartung ist bekannt. Auch Arbeitslose haben eine höhere Mortalitätsrate. Das muss man berücksichtigen. All unsere Maßnahmen haben auch Auswirkungen auf die Gesundheit und Lebenserwartung von Menschen, die nicht an Covid erkrankt sind. Schwer, das gegeneinander abzuwägen, aber wichtig.

Viele Menschen sind in Kurzarbeit oder arbeitslos, die Einkommen werden kleiner, die Mieten bleiben hoch. Welche Rolle spielt der Sozialstaat nun?

Der Sozialstaat war in den letzten Jahren ständig in der Kritik, er würde zu viel kosten. Jetzt wird aber klar, wie wichtig er ist, auch ökonomisch. Wir werden in den nächsten Jahren eine deutlich niedrigere Nachfrage haben. Dadurch wird die Wirtschaft nicht richtig in Schwung kommen. Wir brauchen Nachfrage. Und das garantiert der Sozialstaat. Deshalb bin ich dafür, das Arbeitslosengeld auf 70 bis 80 Prozent zu erhöhen. Alles, was Niedrigverdiener mehr verdienen, geben sie eins zu eins aus. Bei anderen, also bei Besserverdienern, geht es aufs Sparbuch, das ist uninteressant. Und es müssen staatlicherseits Arbeitsplätze geschaffen werden. Zum Beispiel mit dem Ausbau des Gesundheitsbereichs. Vorarlberg hat gemessen am Bundesschnitt um 17 Intensivbetten zu wenig. Hätte man die gehabt, hätte man den Rest des Angebots im Spital nicht runterfahren müssen.

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In der „Süddeutschen“ stand über Kanzler Kurz ein sehr zutreffender Satz: „Nicht das Erreichte zählt, sondern das Erzählte reicht.

Michael Diettrich

Wenn Sie auf dieses Jahr zurückblicken: Was bleibt Ihnen davon?

Was mich an diesem Jahr am meisten entsetzt hat, ist, wie stark unsere Politik zum Marketing verkommen ist. In der „Süddeutschen“ stand über Kanzler Kurz ein sehr zutreffender Satz: „Nicht das Erreichte zählt, sondern das Erzählte reicht.“ Das ist so weit verbreitet, man erkennt es auch in Vorarlberg. Es geht nicht darum, wie viele Leute bei den Massentests waren, sondern erzählt wird, dass es ein voller Erfolg war.

Angelika Drnek

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