Die Polizei schildert den Fall, bei dem es sich aus ihrer Sicht um eine "Überstellung" handelt, in einer Stellungnahme am Mittwochabend wie folgt: Mutter und Tochter reisten am 18. Februar 2006 über Ungarn nach Österreich ein und stellten einen Asylantrag. Das Bundesasylamt wies im März 2006 den Asylantrag unter Berufung auf die Dublin- Bestimmungen, wonach Ungarn (seit 2004 in der EU) für das Verfahren zuständig ist, zurück.
Die Familie wurde aufgefordert, das Land freiwillig zu verlassen und sich bei den ungarischen Behörden zu melden, wo Mutter und Tochter offenbar bereits vor ihrer Einreise nach Österreich einen Asylantrag gestellt hatten, dann aber weiterreisten.
Selbstmordversuch nach VwGH- UrteilEs folgte ein Berufungsmarathon: Der Unabhängige Bundesasylsenat, Vorgänger des Asylgerichtshofs, wies Mitte April 2006 die Berufung in erster Instanz ab. Für die Bearbeitung der dagegen eingebrachten Beschwerde hat das damals zuständige Höchstgericht, der VwGH, ganze vier Jahre, bis zum April 2010 gebraucht – und sie abgewiesen. Die Folgeanträge, die Mutter und Tochter nach dem VwGH- Verfahren beim Asylgerichtshof gestellt hatten, wurden "wegen entschiedener Sache" im September 2010 zurückgewiesen. Ein Beschwerdeweg zum mittlerweile zuständigen VfGH war nicht mehr möglich, die Ausweisung somit rechtsgültig.
"Da die Familie nicht bereit war, in das innerhalb der Europäischen Union für sie zuständige Mitgliedsland Ungarn auszureisen, war eine Überstellung von Österreich nach Ungarn für Mitte September vorgesehen. Diese wurde aber von der Mutter vereitelt", hieß es in der Stellungnahme der Polizei. Laut Darstellung der Volkshilfe Wien hatte die 58- Jährige damals einen Selbstmordversuch mit einer Überdosis Schlaftabletten unternommen. Dieser misslang, die Frau wurde rund eine Woche im Wiener AKH behandelt. Aufgrund "traumatischer Fluchterfahrungen" sei die Armenierin seit Jahren in psychiatrischer Behandlung, so die Volkshilfe.
Mutter abgeführt, Tochter flüchtete vor Eintreffen der PolizeiAm Mittwochvormittag wurde die Mutter schließlich zwecks Überstellung nach Ungarn abgeholt und in die Familienunterkunft des Polizeianhaltezentrums in Wien gebracht. Wie die Polizei einmal mehr betonte, handelt es sich dabei im rechtlichen Sinne nicht um eine "Schubhaft". Vor einer Abschiebung durch die Fremdenpolizei darf die Exekutive die Auszuweisenden für einen bestimmten Zeitraum vor der Außerlandesbringung "anhalten".
Die 14- jährige Tochter befand sich in der Schule, als die Polizei die Mutter festnahm. Die Beamten überprüften dies mit einem Telefonanruf: "Von der Schulleitung wurde die Anwesenheit des Mädchens bestätigt und ein Termin für die Abholung akkordiert, um es zu seiner Mutter zu bringen. Weiters wurde die Jugendwohlfahrt eingebunden", so die Polizei. Als die drei zivilen Beamten, darunter eine Frau, eintrafen, war die 14- Jährige, laut Volkshilfe Wien eine Vorzugsschülerin, aber verschwunden.
"Für die Polizei steht nun die Suche nach dem Mädchen im Vordergrund, um es wohlbehalten wieder zur Mutter zurückzubringen und für eine allfällig notwendige psychologische Betreuung zu sorgen", hieß es in der Stellungnahme der Exekutive. Eine Befragung der Mutter wurde in der Familienunterkunft des Polizeianhaltezentrums Rossauer Lände durchgeführt, um Hinweise auf den Verbleib des Mädchens zu erhalten – "unter Beiziehung einer Psychologin", betonte die Polizei. Den Beamten sagte die Frau, sie habe ihrer Tochter geraten, sich im Falle der bevorstehenden Überstellung vor der Polizei zu verstecken.
Mutter in der Nacht aus PAZ entlassenDie Überstellung der Mutter nach Ungarn wurde schließlich ausgesetzt, die Frau Mittwochnacht aus dem PAZ entlassen. Laut Stephan Amann, dem Abteilungsleiter Flüchtlingsbetreuung bei der Volkshilfe Wien, sei die 58- Jährige um zirka 23 Uhr "einfach alleine ohne Begleitung, ohne Angaben von Gründen oder irgendeiner Information von der Polizei plötzlich vor unserem Nachtportier (des Volkshilfe- Flüchtlingswohnhauses, Anm.) gestanden". Die Frau habe dann noch mit einer Sozialarbeiterin der Hilfsorganisation telefoniert.
Die Polizei berichtet den Ablauf der Freilassung hingegen anders. Die Frau sei intensiv betreut und auch mehrmals auf ihren gesundheitlichen und psychischen Zustand hin untersucht worden, u.a. von einem Amtsarzt, einem Psychologen und einem Sanitäter. Dabei sei auch stets ein gerichtlich beeideter Dolmetscher anwesend gewesen. "Die Frau hat mehrmals betont, dass sie das Polizeianhaltezentrum verlassen möchte. Auf die Kollegen und die Ärzte hat sie keinen emotional aufgewühlten Eindruck gemacht", schildert Polizeisprecherin Manuela Vockner gegenüber krone.at. Als die Entlassung schließlich bestätigt wurde, habe man der 58- Jährigen vorschriftsgemäß angeboten, eine Vertrauensperson zu verständigen. Dies habe die Frau jedoch entschieden abgelehnt und das PAZ dann selbstständig verlassen.
Volkshilfe beklagt Nicht- VerständigungDie Volkshilfe beklagt auch mangelnde Informationsbereitschaft seitens der Polizei. Man habe weder von der Freilassung erfahren, noch wie der aktuelle psychische Zustand der Frau sei, kritisierte Amann. Dies sei unverantwortlich. Vockner meinte dazu, die Polizei habe genaue Vorschriften bezüglich der Verständigungspflicht in solchen Fällen (gegenüber der Volkshilfe bestand daher offenbar keine aktive Informationspflicht). Zudem hatte die Frau ja die Verständigung einer Vertrauensperson abgelehnt.
Bezüglich der Angaben der Polizei, die Mutter hätte der Tochter geraten, sich zu verstecken, meinte Amann: "Mit solchen Empfehlungen haben wir nichts zu tun." Er wisse nicht, ob es diesen Rat gegeben habe. Hätte die Volkshilfe davon erfahren, hätte sie sich jedenfalls dagegen ausgesprochen. Die Aussetzung der Überstellung nach Ungarn wurde von der Volkshilfe begrüßt, es wäre aber auch "schwer verfassungswidrig" gewesen, eine kranke Mutter ohne ihr Kind außer Landes zu bringen, hieß es.
Volkshilfe: Pröll soll "wild gewordene" Fekter zurückrufenDer Vorsitzende der Wiener Volkshilfe, Johann Hatzl, forderte ÖVP- Chef und Vizekanzler Josef Pröll am Mittwochabend auf, "seine offenbar wild gewordene Innenministerin mit ihren Polizeistaat- ähnlichen Abschiebemaßnahmen zurückzurufen". Hatzl appelliert an die Regierung, rasch einen rechtlichen Weg zu finden, um bereits integrierten Personen nach humanitären Grundsätzen den weiteren Aufenthalt in Österreich zu ermöglichen.
Ähnlich sieht den Fall die Grüne Menschenrechtssprecherin Alev Korun. "Polizeiministerin Fekter hat aus dem Fall Zogaj offensichtlich nichts gelernt: Sie versucht eine integrierte Familie nach der anderen abzuschieben, koste es was es wolle", kritisierte sie in einer Aussendung am Donnerstag: "Irgendwo da draußen in der Stadt irrt jetzt eine 14- Jährige herum und hat Angst festgenommen zu werden. Das kann doch nicht die Gesellschaft sein, in der wir leben wollen." Die SPÖ habe diese "Vertreibungsgesetze gegen integrierte Familien" mit beschlossen und schaue tatenlos zu.
"Von 'Polizeistaat- ähnlichen Abschiebemaßnahmen', wie die Volkshilfe Wien vermeint, kann bei der Überstellung von Österreich nach Ungarn aus Sicht der Bundespolizeidirektion Wien nicht gesprochen werden, wenn doch gemeinschaftsrechtliche Regeln der Europäischen Union klare Zuständigkeiten für Asylverfahren vorsehen", hieß es wiederum in der Stellungnahme der Exekutive.
Fekter: "Eigentlich während des Tages abgeholt"Innenministerin Maria Fekter verteidigte am Abend den Versuch, die 14- jährige Armenierin in ihrer Schule abzuführen. In der "ZiB 2" verwies Fekter auf die scharfe Kritik am Vorgehen der Polizei bei der Abschiebung einer kosovarischen Familie in der Vorwoche. "Noch vor zwei Tagen bin ich gescholten worden, weil wir sie in der Früh abgeholt haben. Jetzt haben wir das Kind eigentlich während des Tages abgeman nicht immer nach neuen gesetzlichen Regelungen schreit", sagte Pendl. Natürlich täten ihm die Betroffenen leid, aber es werde immer negative Entscheidungen geben, so der SPÖ- Abgeordnete. Pendl sieht den aktuellen Anlassfall wegen des vierjährigen VwGH- Verfahrens als Altfall, der sich seit der Einrichtung des Asylgerichtshofes in dieser Form nicht wiederholen könne. "Der Asylgerichtshof leistet hervorragende Arbeit. Bei so einer Geschichte dauert das ein halbes Monat und die haben entschieden, wer (für das Asylverfahren, Anm.) zuständig ist", betont Pendl.
2010 weniger Anträge, mehr Schubhaft und AuweisungenDonnerstag gab das Innenministerium auch die aktuelle Asylstatistik bekannt. Die Zahl der Anträge ist 2010 bisher um rund 29 Prozent geringer ausgefallen als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Dies geht aus der aktuellen Asylstatistik des Innenministeriums hervor, wonach 7.192 Anträge gestellt wurden. Dafür wurde von Jänner bis August in mehr Fällen, nämlich 4.152, Schubhaft verhängt. Die Zahl der Abschiebungen lag mit 1.667 Fällen um 60 über dem Vorjahr.
2009 hatte man im selben Zeitraum 10.132 Asylanträge verzeichnet. Die in der Statistik für das Fremdenwesen aufscheinenden 4.152 Schubhaft- Fälle 2010 sind mehr als im Vorjahr (3.924) oder 2008 (3.609). Auch die Zahl der von den Behörden verschickten Aufforderungen, das Land zu verlassen, ist massiv gestiegen - von 1.113 im Vergleichszeitraum bis August 2009 auf heuer 5.788.
Dies hat seinen Grund in der Gesetzesänderung, jedem negativen Asylbescheid wird seitdem automatisch ein "Ausreiseauftrag" beigefügt. Früher gab es dafür ein separates fremdenrechtliches Verfahren. Eine erstmals aufgeführte "freiwillige Rückkehr" wurde laut Statistik von Jänner bis August 2.863 Mal angetreten.
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