Kreischband on Tour

Tokio Hotel in Wien: Es war einmal ein Pop-Phänomen

Musik
31.03.2010 04:36
Regelrecht gefürchtet hat sich so manch einer vor dem Konzert der deutschen Pop-Band Tokio Hotel am Dienstagabend in der Wiener Stadthalle. Wenngleich einige Verrücktheiten, die den vier Musikern aus Magdeburg und ihren Fans in der Vergangenheit Schlagzeilen bescherten, noch bestehen. Vom einstigen Hype war beim dürftig besuchten Konzert kaum mehr etwas zu spüren. Für die Zukunft der vier Pop-Exoten ist das vielleicht ganz gut so...
(Bild: kmm)

Die von einem heimischen Autofahrerclub per Presseaussendung prophezeite Verkehrs-Apokalypse um die Stadthalle durch "16.000 Tokio-Hotel-Fans, die ohne zu schauen oder auf Ampeln zu achten unvermutet auf die Straße treten werden", trat am Dienstagabend natürlich nicht ein.

Zum einen, weil von den 16.000 Fans, die vielleicht in die Stadthalle gepasst hätten, tatsächlich nur rund ein Viertel zum Konzert ging. Und zum anderen, weil die meisten schon dort waren, als sich die Autofahrer noch gar nicht am Weg nach Hause begeben hatten. Ja, zum Teil waren die umsorgten Lenker noch nicht einmal am Weg ins Büro gewesen, da war der kleine Park vor der Stadthalle schon von Teenagern belagert. Eine Handvoll härtestgesottener TH-Fans war sogar schon am Montag angekommen. Knapp hundert Kids nutzten dann in der Nacht vor dem Konzert die frisch begonnenen Osterferien für ein kleines Zeltlager vor der Stadthalle. Die Polizei hielt dankenswerterweise der Veranstalter in Schach.

Ein buntes Meer an Jugendlichen stand brav in Reih und Glied vor der Halle an. Ein paar düster geschminkt und dunkel gekleidet, ein paar aufgebrezelt, als wär's der Opernball. Kurz vor Konzertbeginn, als sich dann sämtliche Fans, ein paar Dutzend unerschrockene Twens auf Clique-Ausflug und die ganz Jüngsten mir ihren skeptisch dreinblickenden Begleitpersonen durch die Begrenzungszäune gequetscht hatten, bot sich den Übriggebliebenen aber ein eher armseliges Bild. Zwischen dem Gestänge lag knöcheltief der Unrat - fast so, als ob Mami jedem konzertfertigen Sprössling beim Hinausgehen mit den Worten "Geh, trag das noch schnell runter" ein Sackerl Mist in die Hand gedrückt hätte und der Umweg zur Müllinsel dann doch zu weit war. Die liegengelassenen Pullover und Decken fanden immerhin schnell ihre Abnehmer.

"Müll" wäre für die meisten Musik-Endverbraucher wohl das richtige Stichwort in Verbindung mit einem Konzert von Tokio Hotel. Von Liebhabern organischer Musik ignoriert oder gehasst, von Eltern eher gefürchtet, gibt es eigentlich nur eine einzige Zielgruppe, die Bill und Tom Kaulitz, Gustav Schäfer und Georg Listing mögen kann: Teenager, die außer MTV noch nicht viel von der Welt gehört haben. Und vielleicht noch Reporter, weil die jungen Exoten halt ein dankbares Thema abgeben. Während die vier Mitglieder der 2005 entdeckten Pop-Band im Blitzlichtgewitter aufs Erwachsenenalter zusteuerten und ihr Geld mittlerweile in Autos investieren können, die sie auch lenken dürfen, will die Fangemeinde aber partout nicht mitaltern. 14 plus ist im deutschsprachigen Raum nach wie vor der Altersschnitt von der ersten bis zur dreißigsten Reihe. Dahinter kommt Papi mit seiner Volksschultochter samt ihren zwei Freundinnen - und die Twen-Clique, die sich langsam fragt, ob die 42 Euro für die Eintrittskarte bei einem Ausflug in eine Karaoke-Bar nicht doch besser angelegt gewesen wären.

Dabei ist die "Welcome to Humanoid City"-Tour professioneller aufgezogen als alles, was Tokio Hotel bisher geliefert haben. Nicht nur, dass die vier Musiker in zwei Tourbussen reisen, in denen sie sich je zwei Mini-Appartements mit echtem Bett und Badezimmer eingerichtet haben. Die monströse Bühne mit Podesten, Treppen, Laufstegen, Feuer- und Konfettispuckern sowie einer Unzahl an Scheinwerfern und Überraschungselementen von der Harley bis zum brennenden Flügel spielt Stückerl, die man sonst nur von Größen wie Rammstein oder KISS kennt. Und auch der Sound kann sich hören lassen. Wären die Ränge in der Stadthalle nicht verhängt und die Stehplatzbereiche vor und hinter dem Wavebreaker, der an diesem Abend eher als Staubfänger fungierte, halb leer gewesen, man hätte tatsächlich glauben können, es ginge hier um etwas.

Punkt 20 Uhr; die riesige Kugel in der Bühnenmitte entfaltet sich und gibt die beiden Gitarreros und Schlagzeuger Gustav frei, der sich mit seinem Podest sodann in gut vier Meter Höhe erhebt. Bill Kaulitz, stilecht mit zurückgegeltem Haar und knochenenger Lederkluft samt Überwurf Marke "Dune, der Wüstenplanet", kommt als Letzter aus dem Gegenlicht. Ein Keyboard orgelt, wo gar kein Tastenmensch auf der Bühne ist, und mit Kaulitz singt ein halber Kirchenchor mit, der freilich auch nirgendwo zu sehen ist. Geschenkt! Sogar Coldplay spielen Sachen vom Band ein. 2010 ist es schon fast normal, dass Pop-Bands im Live-Betrieb nicht mehr spontan den letzten Refrain zweimal spielen können. So ein begleitendes Computervehikel hat eben selten Lust aufs Jammen. Während z. B. Chris Martin aber die Freiheit nützt, um das Publikum zu animieren, sind die vier TH-Jungs - mit Ausnahme ihres Frontmanns - eher aufs Posen und Herumschlurfen bedacht. Dass sie auch anders könnten, zeigt man nur kurz bei einer Unplugged-Einlage. Tom Kaulitz spielt dabei auch ohne Brachialverzerrer glasklare Noten und sein Bruder Bill entdeckt voll Freude, dass es Popp und Tsss macht und Leben in die Stimme kommt, wenn man bei bestimmen Lauten nah ans Mikro geht.

Selig schwelgen die Fans im Herzschmerz-Miteinander, wenn die Band einen Schmusesong anstimmt. Ums Außenseiter-Sein dreht sich der Großteil der neuen Songs vom dritten Album "Humanoid", mit dem sie es in Österreich erstmals nicht in die Top 5 schafften. Lauf weg mit mir, brich hier aus, renn da davon, lass dir von ihr, ihm und den anderen da ja nichts gefallen. Man spürt, wie die Texte bei den Fans reglerechte Selbstbewusstseins- und Energieschübe auslösen. Wenngleich es für Erwachsene pubertär oder einfach zu banal klingen mag - die Musik funktioniert. Genauso wie beim Heavy Metal Fans die Fäuste ballen, Reggae-Jünger barfuß Ringelreia tanzen und Jazz-Genießer mit den Fingern schnippen. Hier wird halt gekreischt. So laut wie rund 4.000 Fans halt kreischen können...

Nach anderthalb Stunden, wenn das letzte Teenie-Mädchen bei der Zugabe ausflippt ist und die Twen-Clique das Doppelte des Ticketpreises für Bier ausgelegt hat, sperrt die Humanoid City wieder zu. Die Band verschwindet in der sich zusammenfaltenden Kugel, das Licht geht an, das Kreischen hört auf und alle gehen brav nach draußen, wo die Stadthallen-Putzkolonne bereits alle Spuren der vergangenen Stunden und Nächte beseitigt hat. Von einem Hype ist fünf Jahre nach dem ersten Tokio-Hotel-Boom in diesem Moment nicht mehr viel zu spüren. Nächstes Mal kommen die Fans vielleicht erst einen halben Tag vor Konzertbeginn. Und irgendwann werden Bill und Tom Kaulitz, Gustav Schäfer und Georg Listing vier Mitglieder einer Band sein, die früher ein Teenie-Phänomen war und sich jetzt ganz normal mit (guter) Musik die Brötchen verdienen muss. Aber keine Sorge, die nächste Verkehrs-Apokalypse kommt bestimmt...

von Christoph Andert
Fotos: Andreas Graf

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