"Krone"-Interview

Orban: “Nur toter Fisch schwimmt mit dem Strom”

Ausland
10.06.2011 19:21
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban ist ein oftmals umstrittener, jedenfalls ungewöhnlicher Politiker. Er hat mit der von ihm gegründeten Fidesz-Partei (Bürgerbund) zwei Drittel der Parlamentsmandate erobert. Der 48-jährige Premier gibt selten Interviews. Exklusiv für Österreich sprach er mit "Krone"-Redakteur Kurt Seinitz.

"Krone": Herr Ministerpräsident, Ungarns EU-Präsidentschaft neigt sich dem Ende zu. Alles steht im Zeichen der europäischen Schuldenkrise. Ungarn war knapp der Schuldenfalle entgangen. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie heute an Griechenland denken?
Viktor Orban: Schulden sind Sünden, das steht schon in der Bibel, und jetzt erleben wir Zeiten, in denen die Sünde bestraft wird. Wir müssen Schulden wie einen Kriegsgegner betrachten. Wenn du den Feind nicht besiegst, dann wird er dich besiegen. Ich denke daran, dass Ungarn vor einem Jahr noch vor Griechenland lag, und es freut mich, dass wir heute kein Krisenthema mehr sind. Die Länder in der Euro-Zone sitzen alle im selben Boot, also müssen sie Partnern in Not helfen. Ich bewundere die Bemühungen Ihres Bundeskanzlers, dies der Öffentlichkeit zu vermitteln. Wenn man im selben Boot sitzt, ist es egal, ob das Boot unter Griechenland ein Leck hat oder unter Österreich.

"Krone": Zu der Schuldenkrise gesellt sich in Europa die Jugendkrise. Noch nie gab es in Europa eine so gut ausgebildete Jugend mit so wenig Chancen. Man spricht bereits von einer "verlorenen Generation", wie sie auch Ungarn aus 20 "verlorenen Jahren" hat. Wie wollen Sie dieses Problem bewältigen?
Orban: Ungarn ist in einer wirklich schwierigen Situation. Von zehn Millionen Einwohnern arbeiten nur 3,9 Millionen. Wenn man keine Arbeit hat, fühlt man sich überflüssig. Es gibt eine einzige Lösung: Jobs, Jobs, Jobs. Wir haben ein Problem, das in gewissem Maße auch Österreich hat, dass man den Wohlfahrtsstaat nicht mehr so aufrechterhalten kann wie bisher. Aus dem Wohlfahrtsstaat (welfare society, Anm.) muss ein Arbeitsbeschaffungsstaat (workfare society, Anm.) werden.

"Krone": Sie sind ein sehr umstrittener Politiker und im besonderen Kreuzfeuer der Kritik. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Orban: Ich betrachte das als Anerkennung. Wenn du als Politiker handelst, musst du mit Kritik rechnen. Nur ein toter Fisch schwimmt mit dem Strom.

"Krone": Sie sind seit der Zeit als Studentenführer deutlich in eine nationalkonservative Richtung geschwenkt. Man hat den Eindruck, Sie verstünden sich als Vollstrecker des nationalen Willens.
Orban: Ich habe meine politische Laufbahn als Freiheitskämpfer begonnen, und das bin ich bis heute geblieben. Das bedeutet: Freiheit des Einzelnen nicht nur in der Politik, sondern in allen Bereichen des Lebens - sonst hätten wir doch nur demokratische Kulissen. Wenn zum Beispiel Kinder zu haben gleichbedeutend ist mit Armut, dann sind die Familien nicht frei. Ebenso wichtig wie die Freiheit des Einzelnen ist die Freiheit der Nation. Mit meiner Arbeit diene ich sozusagen der Freiheit der Nation, aber ich bin nur ein Teil dieser Nation. Traurig stimmt mich die Tatsache in Westeuropa, dass man den Aspekt des Nationalen mit Argwohn abstempelt. Das ist eine Schwäche von Europa. Ohne nationale Identität der 27 Staaten würde die ganze Europäische Union zu einem bürokratischen Monstrum. Die europäische Geschichte lese ich so, dass man nicht vor dem nationalen Gefühl Angst haben sollte, sondern vor künstlichen Ideologien, und die ungarische Geschichte hat gezeigt, dass diese immer nur Befehle bedeutet hatten. Die Demokratie dient am besten den Interessen der Nation. Und übrigens: Eine Nation kann man auf zwei Arten unterjochen: Schwert und Schulden. Deshalb war es sehr wichtig, dass wir in die Verfassung die Schuldenbremse aufgenommen haben.

"Krone": Kritiker werfen Ihnen einen autoritären Kurs vor, weil der Regierungswechsel begleitet war von Umbesetzungen in weiten Bereichen der Gesellschaft durch Leute Ihres Vertrauens. Diese Institutionen bleiben über die nächste Wahl hinaus wirksam. Fidesz wird also regieren, wenn Fidesz nicht mehr an der Regierung ist.
Orban: Das oberste Organ der Republik ist in ungarischer Tradition das Parlament, dem auch ich untergeordnet bin. Ich hätte ein Präsidialsystem nach französischem Muster schaffen können, tat es aber nicht. Hohe Organe, zum Beispiel den Präsidenten des Staatsgerichtshofes, hat das Parlament immer für längere Zeit hinaus ernannt. Ich habe nur neu besetzt, wozu ich das Recht habe. Mit Leuten, die das Land kaputt gemacht haben, bin ich nicht bereit zusammenzuarbeiten.

"Krone": Die neue Verfassung schafft Gesetze, die nur durch Zweidrittelmehrheit geändert werden können. Sie binden künftigen Regierungen die Hände, solange Fidesz ein Drittel der Mandate hat. Will Fidesz Ungarn den Stempel einer Staatsideologie aufdrücken?
Orban: Die sogenannten Zweidrittelgesetze betreffen praktische Maßnahmen, wie sie schon bisher der Fall waren. Das sind keine ideologischen Fragen. Fidesz ist eine europäische Volkspartei, eine der an Mitgliederzahl größten, und hat eher Werte als Ideologie.
Ich werde den Kreis der Zweidrittelgesetze nur in einem Punkt erweitern: den Bereich der Wirtschaftsgesetze. Und ich mache auch kein Geheimnis daraus, dass ich diesbezüglich die Hände der nächsten Regierung binden möchte. Und nicht nur der nächsten, sondern der nächsten zehn Regierungen! Ich glaube, dass gewisse Dinge eine Stabilität brauchen, die man ändern kann, aber nur im Konsens. Die Schuldenpolitik früherer Regierungen hat Ungarn fast das Los Griechenlands beschert.

"Krone": In der neuen Verfassung werden nicht nur Rechte garantiert, sondern auch Pflichten eingefordert. Das ist ziemlich ungewöhnlich.
Orban: Als wir acht Millionen ungarische Erwachsene per Brief über die neue Verfassung befragten und 900.000 Antwortbriefe bekamen, waren zu 90 Prozent die Pflichten gewünscht. Wir Politiker müssen zur Kenntnis nehmen, dass es in Europa eine Grundstimmung gibt, die mehr Ordnung einfordert in Sicherheit, Einwanderung oder Sozialleistungen. Wir müssen die Freiheit mit dieser Ordnung verbinden. Das sind die Erwartungen der Menschen. Ich glaube, die ganze Welt bewegt sich in diese Richtung. Deshalb gehört die ungarische Verfassung nicht der Vergangenheit, sondern eher der Zukunft.

"Krone": Sehen Sie sich irgendwie als Arzt am Krankenbett Ungarns?
Orban:(lacht) Ich sehe mich eher als Spitalsdirektor, weil operieren müssen die Fachkräfte. Meine Aufgabe ist, für das Spital die besten Ärzte zu finden. Und dann werden wir sehen, ob der Patient dieses Unterfangen überlebt.

"Krone": Es wird Ihnen vorgeworfen, Sie wollten sich unter Berufung auf die deutsche Besetzung 1944 vom Holocaust distanzieren trotz ungarischer Mittäterschaft.
Orban: Ich will mich nicht distanzieren, sondern ich sehe das anders. Damals wurden mehrere hunderttausend Menschen (in Ungarn, Anm.) getötet, und ich sehe diesen Völkermord nicht nur aus juristischer Sicht, sondern auch als menschliche Katastrophe. Es gab auch welche, die Todgeweihte zu retten versucht hatten, aber es hätten viel mehr sein können. Jedenfalls habe ich einen Holocaust-Gedenktag eingeführt, und wir haben ein Holocaust-Museum eröffnet. Das sind wir allen Getöteten schuldig.

"Krone": Wahltag ist Zahltag, und da werden Regierungen nach ihrer Wirtschaftsleistung beurteilt. Ihr Wirtschaftsprogramm wie die Flat Tax und Senkung der Unternehmensbesteuerung ist mutig, aber daher auch riskant. Was sagen die ersten Zahlen aus?
Orban: Riskant war, dass wir den Vertrag mit dem Weltwährungsfonds auslaufen ließen, weil wir den Standpunkt vertreten, dass das Land auf eigenen Beinen stehen soll und für die eigene Finanzierung sorgen muss. Wir sind auf die Finanzmärkte zurückgekehrt, wo es keine politischen Vorgaben gibt. Anders formuliert: Wir sind aus einem gut behüteten Stall ins Freie gegangen, wo es kalt ist und ein rauer Wind weht. Aber so schaut die Freiheit aus. Jetzt hängt es davon ab, ob die Akteure auf den Finanzmärkten bereit sind, ihr Geld in Ungarn zu investieren. Dazu bedarf es Stabili

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