Der ukrainische Militäranalyst Oleksandr Kovalenko verfolgt präzise die Entwicklungen an der Front. Mit der „Krone“ sprach er über die Zermürbungstaktik der Ukraine, grimmige Aussichten für 2026 und wo russische Truppen in eine Todesfalle rennen könnten.
„Krone“: Jüngsten Informationen zufolge rücken die Russen bei Kupjansk vor. Wie stellt sich dort die Lage an der Front dar?
Oleksandr Kovalenko: Die Lage bei Kupjansk ist derzeit besser als beispielsweise in Pokrowsk oder Huljaipole. Das liegt daran, dass sich die Infiltration russischer Besatzungstruppen in Kupjansk stabilisiert hat und dass derzeit eine Säuberungsaktion innerhalb der Stadt stattfindet. Die Russen haben bestimmte lokale Kontrollzonen, aber sie kontrollieren nicht die gesamte Stadt.
Der russische Generalstabschef Gerassimow sprach zuletzt davon, dass die Stadt eingekesselt ist.
Die wiederholten Aussagen von Gerassimow und Putin zu Kupjansk entsprechen im Allgemeinen nicht der Realität. Russische Truppen kontrollieren das Gebiet um den Stadionplatz im Norden und Nordwesten der Stadt. Sie behalten auch die Kontrolle über Industriegebiete, aus denen es ziemlich schwierig ist, sie zu vertreiben, aber dennoch sind sie dort derzeit blockiert. Die ukrainischen Streitkräfte führen nach und nach eine Säuberungsaktion in diesen Gebieten durch.
Westlichen Militärbeobachtern ist die Stadt Pokrowsk praktisch längst gefallen, der ukrainische Generalstab widerspricht und sprach von erfolgreichen Gegenaktionen. Wie ist dort der aktuelle Stand?
Die Hauptaufgabe in Pokrowsk besteht derzeit darin, den Vormarsch des Feindes aufzuhalten und zu verlangsamen sowie ihn zu zermürben. Wenn wir die Lage realistisch betrachten, wird es unter den Bedingungen, unter denen sich die Verteidiger von Pokrowsk und Myrnohrad derzeit befinden, nicht möglich sein, diesen Ballungsraum zu halten oder wieder unter Kontrolle zu bringen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir gezwungen sein werden, uns vollständig aus diesem Ballungsraum zurückzuziehen.
Die Strategie der ukrainischen Verteidiger ist offenbar, den russischen Vormarsch im Osten in befestigten Städten zu verzögern und Russland so möglichst große Verluste beizubringen.
In Pokrowsk ist es wichtig, die Verteidigung so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, um den Feind maximal zu erschöpfen und zu verlangsamen, damit er nicht weiter nach Norden vorrücken kann. Obwohl es dort Verteidigungslinien und Stellungen gibt, spielt derzeit jeder Quadratkilometer eine sehr wichtige Rolle als Element der Zermürbung. Die Einnahme der Stadt durch die russischen Besatzungstruppen ist nur eine Frage der Zeit. Wichtiger für uns ist jedoch, wie viel Zeit sie dafür aufwenden werden, und ebenso wichtig ist, wie viel Personal sie dabei verlieren werden – welche Verluste sie erleiden werden.
Im Süden hieß es zuletzt, dass die Ukraine die Front nahe Huljajpole in Saporischschja stabilisiert hat. Wie ist jetzt die Lage in dem Gebiet?
Was Huljajpole betrifft, so entsprachen die Berichte, die im Umlauf waren, nicht der Realität. Die Lage dort ist sehr schwierig. Derzeit befinden sich die Russen in Huljajpole in der ersten Phase der Infiltration von Sabotagegruppen in die östlichen Vororte entlang des Ufers des Flusses Hajtschul. Sie versuchen über diese Richtung – zum Beispiel über die Naberezhna-Straße – in die Stadt selbst einzudringen und Stellungen an ihrem östlichen Rand zu errichten (siehe Karte unten). Im Laufe des Dezembers werden die Russen ihre Angriffsoperationen und Infiltrationen innerhalb der Stadt verstärken. Der Teil am Ostufer des Flusses wird auf jeden Fall verloren gehen. Gleichzeitig besteht die Chance, das Westufer eine uneinnehmbare Bastion zu verwandeln. Wenn alles richtig gemacht wird, kann der Fluss Hajtschul zu einer Verteidigungslinie werden, die die Russen nicht überqueren können. Dann werden sie Huljajpole tatsächlich nicht einnehmen können. Und der östliche Teil wird für sie zu einer Falle innerhalb einer Todeszone werden, in der sie einfach ununterbrochen vernichtet werden.
In westlichen Medien ist immer wieder die Rede von der Hoffnung, dass bestimmtes Kriegsgerät, etwa F-16-Kampfjets, eine Wende im Krieg herbeiführen kann. Ist das naiv gedacht?
Kein einzelnes Waffensystem bestimmt allein den Verlauf eines Krieges. Es bestimmt vielmehr den Ausgang einer bestimmten Kampfhandlung. Die F-16-Kampfjets helfen uns, aber sie benötigen Unterstützung durch Luftüberwachungs- und Kontrollflugzeuge, die uns versprochen wurden – die Saab 340. Soweit ich weiß, haben wir diese noch nicht erhalten, sodass die F-16 nicht ihr gesamtes Leistungsspektrum ausschöpfen können. Dies gilt auch für ihre Bewaffnung. Wir haben immer noch keine AIM-120C- oder AIM-120E-Lenkwaffen. Damit könnten wir russische Su-34 praktisch schon beim Anflug auf den ukrainischen Luftraum abschießen.
Die Ukraine hat auch moderne Panzer geliefert bekommen. Was können sie ausrichten?
Das dominierende Element auf dem Schlachtfeld sind Kampfdrohnen. Da mag es den Anschein haben, dass Panzer in den Hintergrund getreten sind. Aber man darf sie nicht abschreiben. Gepanzerte Mannschaftstransporter schützen Soldaten, Kampfpanzer übernehmen die Rolle der Feuerunterstützung und werden manchmal als Ersatzartillerie eingesetzt. Allein durch den Erhalt von Panzern hätten wir keinen Vorteil im Kampf erlangen können. Insbesondere deshalb, weil wir weit weniger Panzer erhalten haben, als wir für Gegenoffensiven in ausreichendem Umfang benötigt hätten. Wir hatten einen katastrophalen Mangel daran, und erhielten sie nur sehr langsam. So konnten sie den zahlenmäßigen Vorteil Russlands nicht wettmachen. Die Russen verfügen über Zehntausende Einheiten verschiedener Waffensysteme, während die Ukraine nur Dutzende erhalten hat – und weiterhin nur Dutzende erhält, nicht einmal Hunderte.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, dass die Ukraine wieder signifikant Gebiete zurückerobern kann?
Derzeit sehe ich keinerlei Aussichten für Gegenoffensiven der ukrainischen Streitkräfte. Wir werden weiterhin vorwiegend an einer Verteidigungsstrategie festhalten. Die Hauptaufgabe besteht darin, den Feind zu verlangsamen und zu erschöpfen. Das ist eine ziemlich schwierige Aufgabe, die sich nicht von heute auf morgen bewältigen lässt. Die Rückeroberung ukrainischer Gebiete wird weder in diesem noch im nächsten Jahr geschehen. Das ist ein langfristiger Prozess, der die Phase einer defensiven Strategie durchlaufen muss. Derzeit hat diese Strategie noch nicht alle ihre Funktionen und Aufgaben erfüllt. Der Feind ist noch nicht erschöpft, auch wenn er gebremst wurde.
Ist es dann nicht trotz aller Bemühungen auf dem Schlachtfeld das wahrscheinlichste Szenario, dass die Ukraine bei einem Friedensschluss Gebiete abtreten muss, weil sie irgendwann militärisch erschöpft ist?
In gewisser Weise kämpft die Ukraine um die Zukunft Europas. Putin wird niemals bei der Ukraine Halt machen, und selbst innerhalb der Ukraine wird er niemals aufhören. Selbst wenn irgendeine Art von Friedensabkommen unterzeichnet würde, würde er nach einiger Zeit die aktiven Feindseligkeiten wieder aufnehmen und weiter vorrücken. Wo immer Putin sieht, dass Zugeständnisse möglich sind, wird er weiter gehen. Und „weiter“ bedeutet Europa. Wenn heute die Ukraine gezwungen ist, Territorium aufzugeben, wird morgen Frankreich gezwungen sein, etwas aufzugeben – oder Polen, oder Deutschland, oder Litauen, Lettland, Estland. Daher sehe ich keinen anderen Weg, als Druck auf Russland auszuüben, diplomatisch oder militärisch, bis es erschöpft ist.
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