Appell der Präsidenten

„Dann ist unsere Art zu leben in ernster Gefahr!“

Außenpolitik
18.10.2025 20:00

Vor dem Staatsbesuch des Deutschen Bundespräsidenten am Dienstag geben Alexander Van der Bellen und sein Amtskolle Frank-Walter Steinmeier in der „Krone“ eine gemeinsame Erklärung ab. Lesen Sie hier den eindringlichen Appell der beiden Präsidenten an die Europäerinnen und Europäer.

Es grenzt an ein Wunder. Nach zwei verheerenden Weltkriegen, millionenfachem Tod und beispielloser Zerstörung herrscht zwischen den Staaten, die sich am europäischen Projekt beteiligt haben, seit sieben Jahrzehnten durchgehend Frieden und Stabilität.

Ging es anfänglich um die gegenseitige Sicherung des wirtschaftlichen Überlebens durch die gemeinsame Bewältigung des Wiederaufbaus, hatten überzeugte Europäerinnen und Europäer bald eine größere Vision: von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bis zur Europäischen Union.

„Welch ein Irrtum!“
Die europäische Einigung brachte Wachstum und Wohlstand, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für rund 450 Millionen Menschen. Diese Idee, dieser Traum vom geeinten Europa, übt weiterhin große Anziehungskraft aus. Auch für viele Menschen von außerhalb ist die Europäische Union gerade deswegen ein Sehnsuchtsort. Sie ist einzigartig in der Menschheitsgeschichte. Eine Gemeinschaft, die aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat und daraus etwas Neues entstehen ließ.

Bereits in der Vergangenheit traten Steinmeier und Van der Bellen gemeinsam auf.
Bereits in der Vergangenheit traten Steinmeier und Van der Bellen gemeinsam auf.(Bild: APA/BUNDESHEER/PETER LECHNER)

Wir Europäerinnen und Europäer haben uns an dieses Wunder gewöhnt. Möglicherweise zu sehr. Viele halten dieses Wunder für selbstverständlich, für gegeben, für unumkehrbar. Welch ein Irrtum! Allein der Blick zurück, so stolz er uns macht, reicht aber nicht für die Perspektive nach vorne.

Europa erlebt heute einen doppelten Epochenbruch: Am 24. Februar 2022 ist mit dem russischen Überfall auf die Ukraine der Angriffskrieg auf den europäischen Kontinent zurückgekehrt. Ein Angriff, der auch der europäischen Friedensordnung gilt. Und zeitgleich erleben wir, dass unsere Gewissheiten über die Tragfähigkeit der transatlantischen Sicherheitsarchitektur brüchig geworden sind.

„... dafür muss Europa einen Beitrag leisten“
Das hat Konsequenzen: Wir Europäer können uns nicht mehr auf andere verlassen, müssen selbst für unseren Schutz sorgen, unsere eigene Verteidigungsfähigkeit und Abschreckung glaubhaft stärken. Europa muss seine eigene Sicherheit garantieren, auch um nicht von anderen als schwach und steuerbar gesehen zu werden. Und „Europa“ ist hier bewusst nicht auf die Staaten der EU beschränkt, auch Großbritannien und Norwegen kommen zentrale Rollen zu. Für dieses Ziel müssen und werden wir als Europa einen größeren Beitrag leisten.

In Zeiten von knappen Budgets wird dieser Kraftakt nicht so leicht zu stemmen sein, aber wir müssen und werden ihn schaffen. Gelingen kann das, wenn Europa zusammensteht und seine Kräfte bündelt. Sicherheit beginnt im Inneren. Sagen wir den Bürgerinnen und Bürgern Europas klar, warum diese Entscheidungen getroffen werden müssen!

Sicherheit verlangt auch eine mutigere, proaktive Außenpolitik, die sich auf europäische Werte und Interessen gründet, sich aber an globalen Realitäten orientiert und enge außereuropäische Wertepartner mit einbindet. Heute mehr denn je.

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Wenn wir untätig zuschauen oder nur beim Blick zurück verharren, droht das Feuer der europäischen Idee im Sturm zu erlöschen. 

Wie sich Krisen meistern lassen

„... dann muss sich auch Europa verändern“
Wenn die Weltlage sich verändert, dann muss sich auch Europa verändern. In der geopolitischen Zeitenwende, die wir erleben, muss Europa sich neu erfinden. Wir brauchen neue Zuversicht, neuen Mut und die feste Entschlossenheit, die Errungenschaften des europäischen Projekts auch für künftige Generationen zu erhalten. Vielleicht vergleichbar mit der Kraftanstrengung der Europäerinnen und Europäer der ersten Stunde.

Lassen Sie uns mit Selbstachtung und Optimismus auf unsere eigenen europäischen Fähigkeiten schauen. Wir sind nicht nur ein großer Freiheits- und Friedensraum, sondern auch ein mächtiger Wirtschaftsraum, wir sind ein Markt mit über 450 Millionen Menschen. Und als solcher haben wir Verhandlungsmacht und Einfluss, die wir nutzen können.

Damit dies gelingt, müssen wir aber die innere Verfassung Europas stärken.

Mit selbstbewussten und stolzen Europäerinnen und Europäern, in einem Europa, in dem ihre Kinder eine gute Zukunft haben und in Freiheit, Sicherheit und Wohlstand leben können.

Mit einer handlungsfähigen Europäischen Union, die gemeinsam voranschreiten kann.

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Wir sind nicht nur ein großer Freiheits- und Friedensraum, sondern auch ein mächtiger Wirtschaftsraum mit über 450 Millionen Menschen. 

Über die Verhandlungsmacht der EU

„... dann ist unsere Art zu leben in Gefahr“
Jede Bombardierung ukrainischer Städte durch russische Raketen, jede Provokation durch Drohnen oder Cyberangriffe testet unseren europäischen Zusammenhalt. Wenn wir nicht klar zu verstehen geben, dass wir uns nicht auseinanderdividieren lassen, dass wir solidarisch zueinanderstehen, ist unsere Art zu leben in ernsthafter Gefahr. Für jeden einzelnen Mitgliedsstaat ist es ein Moment der Entscheidung – für oder gegen Europa.

Wer künftig an den Vorteilen dieser – gestärkten – Europäischen Union teilhaben will, kann nicht gleichzeitig die Grundprinzipien, auf die die EU gründet, Tag für Tag in Frage stellen. Grundprinzipien wie das der liberalen Demokratie: Wer größere Nähe zu Autokratien verspürt, zerstört die EU von innen. Wir brauchen eine Europäische Union, die sich auf das Wesentliche konzentrieren kann.

Wenn wir untätig zuschauen oder nur beim Blick zurück verharren, droht das Feuer der europäischen Idee im Sturm zu erlöschen. Wir Europäer haben oft genug gezeigt, dass wir Krisen meistern können, wenn wir geschlossen handeln. Wir können und werden – davon sind wir beide überzeugt – auch die Herausforderungen unserer Zeit meistern, um dieses Feuer wieder auflodern zu lassen und es an die nächste Generation weiterreichen zu können.

Liebe Europäerinnen und Europäer! Lassen Sie uns alle gemeinsam am Wunder Europa weiterarbeiten. Zu unser aller Vorteil und für Frieden und Freiheit auf unserem schönen Kontinent.

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