Soundtrack-Arbeit

Kraftwerk-Musiker vertont Stummfilm-Klassiker

Musik
07.02.2024 14:00

Mehr als 15 Jahre lang zog der legendäre Stummfilm-Klassiker „Das Cabinet des Dr. Caligari“ den einstigen Kraftwerk-Musiker Karl Bartos in seinen Bann. In akribischer Detailverliebtheit erzeugte über nun einen Soundtrack für das wegweisende Werk des Expressionismus. Mit der „Krone“ analysierte er das „Lebensprojekt“ in alle Einzelteile.

(Bild: kmm)

Mit dem Stummfilmklassiker „Das Cabinet des Dr. Caligari“ schuf der in Breslau geborene Regisseur Robert Wiene 1920 ein Meisterwerk für die Ewigkeit. Noch heute verehrt man den Horrorthriller als Schlüsselstück des expressionistischen Films. Mittels einzigartiger Akkuratesse und darstellerischen Top-Leistungen wird man in eine mysteriöse Tour de Force des Schreckens gezogen, bei der sich die Handlung mehrmals dreht und sich Schein und Sein ein sinistres Doppelspiel liefern. „Caligari“ entstand unter den furchtbaren Eindrücken des Ersten Weltkriegs und lieferte eine abstrahierte Kunstform, die ihresgleichen suchte. Verlangsamte oder übertriebene Bewegungen, exzentrische Körpersprachen, das permanente Spiel mit unterschiedlichen Perspektiven und Raumkörpern und nicht zuletzt die Gestalten mit dunkel umrandeten Augen und starren Blicken faszinierten und schockierten gleichermaßen.

Die Popkultur beeinflusst
Der in sechs Akte aufgeteilte Film sah in gruseliger Art und Weise die typischen Machenschaften des despotischen Nazi-Regimes voraus und gilt noch heute als sozialpolitisch-künstlerisches Meisterwerk. Von David Bowie über The Cures Robert Smith bis hin zu den Red Hot Chili Peppers oder Star-Regisseur Tim Burton beeinflussten Erzählstrang, Stil und Optik die spätere Popkultur. Dem „Cabinet des Dr. Caligari“ verfiel auch der einstige Kraftwerk-Musiker Karl Bartos, der dem Stummfilm über viele Jahre hinweg in akribischer Detailarbeit ein Klangkorsett bastelte und damit eine schier unmögliche Mission zu einem Ende brachte. „Ich fand den Film unheimlich faszinierend“, erzählt Bartos im „Krone“-Gespräch, „er handelt von der expressionistischen Sicht auf die Welt, der Psychoanalyse nach Sigmund Freud und der mystischen Geisterwelt der Romantik. Ursprünglich hätte der Österreicher Fritz Lang Regie führen sollen, aber er hatte keine Zeit.“

Der Film spielt mit Erzählebenen und unterschiedlichen Realitäten, mit Surrealität und dem Wahnhaften, mit wandelbaren Figuren und der diffusen Wahrheit während des Schlafwandelns. 2005 kam Bartos erstmals mit „Caligari“ in Berührung - losgelassen hat ihn der Film nie mehr. „In diesem Fall versuchte ein Film nicht die Wirklichkeit, sondern einen Fiebertraum zu inszenieren - nur merkt man das nicht. Man glaubt als Zuseher in der Binnenhandlung einer Sherlock-Holmes- und Dr.-Watson-Geschichte zu folgen, doch später wird einem der Teppich unter den Füßen weggezogen. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war die schlimmste und grässlichste, die Menschen in der Postmoderne erlebt haben. Der Film war eine direkte Antwort darauf. Er nimmt schon vorweg, was Tarantino später als Stilmittel für ,Pulp Fiction‘ verwendet hat und die ,Süddeutsche Zeitung‘ hat ihn später zurecht als ,Urknall der Popkultur‘ bewertet. Nur gab es nie einen Soundtrack dazu und da hat mich sofort gereizt, meine Finger draufzulegen.“

Von Bach zu Reich
Bartos ist als 16 Jahre andauerndes Kraftwerk-Mitglied und Ko-Autor von Songs wie „Das Model“ und „Tour de France“ zwar in erster Linie Elektro- bzw. Techno-Legende, genoss aber eine klassische Ausbildung, die er hervorragend für dieses ambitionierte Projekt umsetzen konnte. „Aus mir naheliegenden Gründen habe ich erst versucht, elektronische Musik zu schreiben, aber das passte nicht“, rekapituliert der Musiker den Arbeitsprozess, „erst mit der genaueren Filmanalyse war mir klar, was ich machen muss. Der Film ist ein Produkt des 20. Jahrhunderts, wurde inhaltlich in die Zeit der Romantik, also des 19. Jahrhunderts, versetzt, und geht in Rückblenden ins 18. Jahrhundert zurück. Ich brauchte also einen Klangkörper, der diese drei Epochen verbindet. So ging ich von der Postmoderne zurück in der Musikgeschichte und landete beim Sinfonieorchester. Mein audiovisuelles Konzept für ,Caligari‘ spannt sich also von Johann Sebastian Bach bis zu Steve Reich.“

Bartos schraubte akribisch an Tönen wie der im Film vorkommenden Drehorgel, dem Klopfen an Fenstern und Türen, dem Knarzen des Bodens oder der Handklingel von Dr. Caligari. „Man weiß aus Aufzeichnungen, dass es bei den Dreharbeiten tierisch laut war. Man konnte damals schon Musik aufzeichnen, aber es konnte noch keine Tonspur auf Zelluloid gepasst werden. Ich habe mich darauf konzentriert, nicht die Dialoge, sondern Geräusche einzubauen. Ich benutze diese Art der Sprache und vermische sie mit dem Wahnsinn des Films, um den Menschen eine Aura zu geben und sie in der Tiefe plastisch werden zu lassen.“ Bartos‘ primäre Aufgabe bestand darin, die Stille in Kunst zu verwandeln, wofür ihm seine Vita dienlich war. „An der Universität der Künste in Berlin war auditive Mediengestaltung einige Zeit lang meine Professur. Davon konnte ich zehren. Wir sind es heute nicht mehr gewohnt, die Welt um uns herum stumm wahrzunehmen. So habe ich Szene für Szene mit Geräuschen, also diagetischer Musik, gefüllt. So waren die Menschen im Film für mich plötzlich nicht über 100 Jahre entfernt, sondern präsent und gegenwärtig.“

Die Gegenwart vorausgenommen
So ähnlich wie es auch mit Bildern aus dem Zweiten Weltkrieg sei. „Wenn du auf einem Foto eine Reichsflagge koloriert in Schwarz, Rot und Weiß siehst, ist das Grauen plötzlich viel greifbarer als auf einem Schwarzweißbild. Im Falle des Films hole ich die Menschen also im besten Fall näher heran. Am Ende des Prozesses habe ich Musik und Sounddesign komplementär miteinander verbunden.“ Für die Recherche nahm sich der 71-Jährige viel Zeit und vergrub sich in Büchern und Doktorarbeiten, die dazu verfasst wurden. „Die eigentliche Botschaft des Films war ja, dass er die Gegenwart voraus nahm. Es gibt keine zufriedenstellende Erklärung, weil es am Ende des Films nicht mehr um die Suche nach Wahrheit geht, sondern um das Verschwinden der Wirklichkeit. Die Rollen werden verdreht und niemand weiß, ob das geplant oder Zufall war. Dahinter steckt eine absurde Poetik. Der Film thematisiert das Verhältnis zwischen dem Menschen und der Kunst und die darin vorkommenden Parallelperspektiven sind kennzeichnend für unsere Welt.“

Bartos sieht einen direkten Zusammenhang mit unserer Gegenwart. „Heute sind die digitalen Realitäten, in denen wir leben, auch nur ein Spiegel unseres realen Lebens. So war auch der Film - nur eben 100 Jahre früher. Die Musik und die Kunst im Allgemeinen sind für mich Räume der Stille in einer kapitalistisch getriebenen Welt, wo es nur noch um Profit und Lautstärke geht. Ich habe sehr viel Zeit meines Lebens in dieses Projekt investiert, weil es mir wert war, dem resilienten Raum etwas hinzuzufügen. Als Mensch bin ich noch in der Gegenwart, irgendwann aber in der Ewigkeit. Die Musik, die ist schon jetzt ewig.“ Ein Film wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“ rege laut Bartos nicht zuletzt zum Nachdenken und Reflektieren an. Dinge, die ihm heute in Film und Musik oft nicht mehr allzu präsent erscheinen. Mit seinem musikalischen Partner Mathias Black trägt Bartos in ausgewählten Kinos den Soundtrack alternierend zum abgespielten Film auch live vor. Ein Österreich-Termin wurde bislang noch nicht fixiert.

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