Peter Gabriel hat die Geduld seiner Fans lange strapaziert. Zwölf Jahre ist sein letztes Studioalbum her, ganze 21 sind seit seinem letzten Album mit neuer Musik vergangen. Während der Sessions zu „Up“ hatte Gabriel nach eigener Aussage 130 Songs aufgenommen, von denen nur zehn auf dem Album landeten. Einen Nachfolger namens „i/o“ hatte er ursprünglich für 2004 angekündigt, doch Tourneen und andere Projekte kamen dazwischen. Nun ist es aber so weit.
Erst 2019 hatte Gabriel die Arbeit an „i/o“ wieder aufgenommen, wirklich neu ist nun allerdings nichts mehr, denn seit Beginn des Jahres veröffentlichte der 73-Jährige zu jedem Vollmond einen neuen Song. Der zwölfte und letzte erschien am Montag vor dem Album-Release. „Nach einem Jahr voller Vollmond-Veröffentlichungen freue ich mich sehr, dass all diese Songs auf dem guten Schiff i/o zusammenkommen und bereit sind für ihre Reise in die Welt“, wird Gabriel im PR-Text zum Album zitiert. Nur die Reihenfolge hat sich noch leicht geändert.
Menschen herrschen
„Panopticum“, eine Kooperation mit Brian Eno, leitet die neue Songsammlung ein, zunächst mit ruhigem atmosphärischem Intro, bevor sich das Lied im Refrain beschleunigt. Es geht um eine Erfindung des Philosophen Jeremy Bentham: ein Gebäude, das so gebaut war, dass alle Bewohner von einem zentralen Wächter überwacht werden können. Peter Gabriel dreht das Konzept um. Bei ihm wachen die Menschen über die Herrscher. „Aus Big Brother wird Little Sister“, erklärt der Sänger von Hits wie „Solsbury Hill“ und „Sledgehammer“.
Im starken Kontrast dazu ist „Playing For Time“ eine melancholische Piano-Ballade, in der sich der 73-Jährige mit dem Prozess des Alterns auseinandersetzt. Für die orchestrale Begleitung sorgt das New Blood Orchestra, mit dem er in der Vergangenheit seine größten Hits neu aufnahm. Orchesterleiter John Metcalfe ist in der Popmusik genauso zu Hause wie in der Klassik. Er musizierte schon mit Morrissey, Coldplay, den Pretenders, den Simple Minds und verleiht dem Album teilweise die Klangaura eines Hollywood-Soundtracks.
Sanfterer Zugang
„The Court“ beginnt leicht funky, mit einem Keyboardloop und Gesang, der nah am Sprechgesang ist. Im Refrain hebt das Orchester das Lied auf ein dramatisches Level. „Olive Tree“ ist ein erhebender Popsong mit starkem 80er-Einschlag, der mit seinem fröhlichen, mitreißenden Refrain samt Bläsern auch zu Gabriels früherem Genesis-Kollegen Phil Collins gepasst hätte. Kaum ein Song auf „i/o“ gleicht dem anderen. Gabriels Stimme und der eigenwillige Stil machen das Gesamtwerk unverkennbar, obwohl es sanfter ist als frühere Alben von ihm.
Unterstützt wird der einstige Genesis-Frontmann wie gewohnt von Gitarrist David Rhodes, Bassist Tony Levin und Schlagzeuger Manu Katché. Neben seinem langjährigen Weggefährten Brian Eno wirkten weitere Musiker an dem Album mit, darunter auch seine eigene Tochter Melanie, die bei der minimalistischen, bewegenden Ballade „So Much“ im Hintergrund singt. Wieder geht es ums Altern. „So much to live for, so much left to give“, singt Gabriel. „This edition is limited, there‘s only so much can be done.“
Varianten für Klang-Connaisseure
„i/o“ erscheint in verschiedenen Versionen und Formaten. Bei der Doppel-CD oder Doppel-LP ist jeder Song in zwei Stereo-Mixen vertreten, sodass das Album 24 Tracks enthält. Für Audiophile, denen das immer noch nicht genügt, gibt es auf Blu-Ray obendrein den „In-Side Mix“ in Dolby Atmos von Hans-Martin Buff, dem ehemaligen Toningenieur von Prince. Mit seinen vieldimensionalen Abmischungen habe Buff „wundervolle Arbeit geleistet“, schwärmte Gabriel.
Bei seinen Konzerten in diesem Jahr scherzte Peter Gabriel über den Einfluss von Künstlicher Intelligenz und die Gefahr, dass sie Musiker ersetzen könnte. Für Künstler wie ihn dürfte das auf längere Sicht noch nicht gelten. Denn Gabriels Stil ist einzigartig und nicht berechen- oder kopierbar, wie sich auf dem erstaunlich zeitlosen Album „i/o“ wieder zeigt. Bleibt zu hoffen, dass sich der Sänger bis zu seinem nächsten Album mit neuer Musik nicht so lange Zeit lässt.
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