Das Wetter ist kalt und trüb, als wir einander zum Interview in der Dachgeschoßwohnung ihres Beraters am Wiener Stubenring treffen. Natascha Kampusch ist etwas melancholisch gestimmt und macht sich Gedanken über ihre bevorstehende Reise. Die Impfungen, der Flug, das Klima.
Wien – Dubai - Sri Lanka. Auf der Insel im Indischen Ozean wird sie drei Tage später, nach einjähriger Bauzeit, "ihre" Kinderkrankenstation eröffnen. Sie fischt ihr iPhone aus der Tasche, scrollt durch das Bilderarchiv und zeigt ein Foto ihres Kinderzimmers am Rennbahnweg. An der Tür hängt ein Poster von Don Bosco. "Er war mein Idol, weil er sich um Straßenkinder gekümmert hat", sagt Natascha Kampusch, die sich auch so gefühlt haben muss.
Von einer Don-Bosco-Station in Sri Lanka ruft sie am Donnerstag in der "Krone" an. Ihre Stimme klingt leicht und heiter. "Mir geht es sehr gut. Die Kinder tanzen für mich. Es ist sehr berührend und schön zu sehen, dass es ihnen schon besser geht." Die Kinder, von denen sie spricht, sind Tsunami-Waisen, ehemalige Sexsklaven und kleine Soldaten, die von Erwachsenen in den Krieg gezwungen wurden.
"Krone": Frau Kampusch, warum haben Sie gerade Sri Lanka für Ihr Hilfsprojekt gewählt?
Natascha Kampusch: Ich habe während meiner Gefangenschaft ja Radio gehört. Als 2004 der Tsunami ausbrach und die Berichte darüber zu mir gedrungen sind, hatte ich sofort schreckliche Bilder im Kopf. Wie ganze Existenzen wegschwimmen oder Verwandte nie wieder auftauchen. Ich habe dazu sogar ein Aquarell gemalt.
"Krone": Kann es sein, dass das ein Trost für Sie war? Dass es noch andere schlimme Dinge auf der Welt gibt als Ihre Isolation?
Kampusch: Ich weiß nicht, ob das ein Trost war. Aber ich denke, dass ich Unglück intensiver wahrgenommen habe als Menschen, die durch ihren Alltag abgelenkt sind. Und da ich es auch gerne gehabt hätte, dass man mir helfen würde, habe ich schon damals den Wunsch gehabt, anderen Menschen zu helfen. Der spätere Projektleiter der Kinderkrankenstation hat mir erzählt, dass es in Sri Lanka am Notwendigsten mangelt. Und dass vor allem Kinder leiden, die eigentlich eine sorglose Kindheit haben sollten. Daraufhin bat ich ihn, mir Hilfsprojekte vorzuschlagen.
"Krone": Wie viel hat das Krankenhaus gekostet?
Kampusch: Rund 50.000 Euro. So viel ist durch Spenden reingekommen. Die Hälfte habe ich bereits den Opfern im Fall Josef F. zur Verfügung gestellt. Die andere Hälfte habe ich Sri Lanka gewidmet und diesen Betrag habe ich dann mit meinem Geld verdoppelt.
"Krone": Wie war diese Überlegung, so viel Geld in eine Sache zu stecken?
Kampusch: Lehrreich. Ich meine, die meisten Leute freuen sich ja, wenn sie ein Auto kaufen. Aber wem nützt das? Meine Sache nützt ganz vielen – im Einzugsgebiet der neuen Krankenstation leben 1,5 Millionen Menschen – und deshalb konnte ich mich ganz anders freuen. Es gibt jetzt 25 Betten, und es werden 50.000 Kinder ambulant versorgt werden. Vorher wurden diese Menschen in einer Baracke behandelt.
"Krone": Was sagen Sie Leuten, die jetzt wieder meckern werden, dass es doch auch in Österreich genug notleidende Kinder gibt? Oder dass Sie ruhig mehr investieren hätten können?
Kampusch: Erstens: Dass Sri Lanka nicht das einzige Projekt ist, das mich anspricht, und ich helfe auch in Österreich. Zweitens: Dass meine Vermögensverhältnisse keinesfalls so rosig sind, wie viele Menschen annehmen. Trotzdem stehe ich immer wieder unter Beschuss. Leider gibt es nach wie vor irgendwelche Verschwörungstheoretiker, die sich wichtigmachen wollen. Manche sind mit Mikrowellen und Gaskochern unterwegs, um meine Geschichte noch mal aufzuwärmen. Schicksals-Recycling oder so.
"Krone": Was haben Sie in Sri Lanka erlebt?
Kampusch: Ich dachte, dass es mich bedrücken würde, diese kranken Kinder mit Verbänden am Kopf mit ihren Müttern zu sehen, Buben, die sexuell missbraucht worden sind, Waisen, die keinen Menschen mehr haben. Alle mit unaussprechlichen Namen. Ich bin ja selbst traumatisiert und wusste nicht, wie es sein würde, mit Leid konfrontiert zu sein. Natürlich nimmt einen das mit. Aber es hat mich auch froh gestimmt, denn diese Kinder können jetzt Bäcker werden, sie besuchen die Schule, spielen Cricket und Fußball. So habe ich mir die Arbeit von Don Bosco immer vorgestellt. Und ich hoffe, dass viele Menschen in Österreich für sein Werk spenden.
"Krone": Machen Sie das auch ein bisschen für das Kind in Ihnen, das so viel durchmachen musste?
Kampusch: Natürlich. Und ich schäme mich auch ein bisschen dafür, was viele Menschen auf dieser Welt ihren Kindern antun. Es ist der Wunsch da, etwas gutzumachen, reparieren zu wollen, was andere angerichtet haben. Man muss ja nicht gleich alles flicken. Man kann auch mit einer Tube Klebstoff anfangen und schauen, was man erreicht.
"Krone": Was macht der Gedanke, anderen Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, mit Ihnen?
Kampusch: Er gibt mir Sinn. Viele Menschen in unserer Wohlstandsgesellschaft, seien wir uns ehrlich, fragen sich doch: Welchen Sinn hat mein Leben? Ich habe für mich herausgefunden, dass Konsumieren nicht der Sinn sein kann. Diese ganze Unterhaltungsindustrie raubt dir doch oft nur die Energie mit ihrem Schrott, der Seelen und Geister vermüllt.
"Krone": Sind Sie jetzt glücklich?
Kampusch: Sie immer mit Ihren Fragen. Was ist Glück? Glück ist flüchtig, das sind vielleicht kurze Momente, in denen man im Reinen ist mit der Welt. Hier in Sri Lanka durfte ich in den letzten Tagen ganz viele solcher Momente erleben. Ich blühe hier auf wie ein Kaktus, der plötzlich rosa Blüten trägt.
"Krone": Was ist in Wien anders?
Kampusch: In Wien werde ich oft angegriffen, da pass' ich die ganze Zeit auf. Ein unsichtbares Regelwerk umfängt mich und engt mich ein, drückt mich nieder. Hier in Sri Lanka bin ich sicherer. Mit diesen Kindern, die so dankbar strahlen, fühle ich mich wie durch ein Zauberband verbunden. Ich glaube, ich werde in Wien dann auch viel besser atmen können. Es ist, als sei jetzt eine große Last von mir gefallen.
"Krone": War es nicht ungewohnt, plötzlich mit so vielen Menschen konfrontiert zu sein?
Kampusch: Doch, und es begleitet mich ja auch ein ORF-Kamerateam. Ich habe vielen Politikern die Hand geschüttelt und sogar eine Rede in Englisch gehalten! Auch über meine Vergangenheit gab es eine Rede.
"Krone": Wie ist das bei Ihnen angekommen?
Kampusch: Es war eine schöne Geschichte. Weil sie trotz schrecklicher Umstände gut ausgegangen ist. Auch die Geschichten dieser Kinder von Don Bosco sind gut ausgegangen. Sie haben jetzt saubere Betten und sanitäre Anlagen mit Wasser, das sie sogar trinken können. Ich weiß das zu schätzen, weil ich nicht immer genug Wasser zu trinken hatte. Und in den Schubladen ihrer kleinen Kästchen haben sie das Bild von Don Bosco, so wie ich ein Poster an meiner Tür hatte als Kind. Damals wollte ich Priester werden. Aber das ist ja Männern vorbehalten.
"Krone": Fühlen Sie sich wie eine Mutter diesen Kindern gegenüber?
Kampusch: Ich glaube, ich habe noch nicht die Ressourcen, um mütterliche Gefühle zu entwickeln. Ich bin noch viel zu sehr damit beschäftigt, mein Leben zu gestalten. Ich versuche, eine Ausbildung zur Goldschmiedin zu machen, und ich bin in Therapie. Vielleicht können Sie das genau so schreiben, sonst fragen mich die Leute auf der Straße wieder: Sind Sie schon? Haben Sie schon? Können Sie schon?
"Krone": Was soll in zehn Jahren sein?
Kampusch: Ich möchte in zehn Jahren nicht vor dem Spiegel stehen und mir denken: Um Gottes Willen, was ist denn das für eine seltsame Person gewod Eine Welt – Don Bosco Aktion Österreich" unterstützt in Sri Lanka Bildungsprojekte für Straßenkinder, ehemalige Kindersoldaten, Opfer des Sextourismus und für Kinder, die durch die Tsunami-Katastrophe zu Waisen wurden. Eines dieser Projekte ist das Zentrum "Bosco Sevana" in Uswetakeiyawa, das Natascha Kampusch in der vergangenen Woche besucht hat. "Jugend Eine Welt" ist ein internationales Hilfswerk, ausgezeichnet mit dem Spenden-Gütesiegel. Unter dem Leitgedanken "Bildung überwindet Armut" unterstützt "Jugend Eine Welt" Schulen, Straßenkinder-Programme und Bildungszentren in Asien, Afrika, Lateinamerika und Osteuropa. Projektpartner sind dabei die Salesianer Don Boscos und die Don-Bosco-Schwestern.
Hinweis: Einen Bericht über Natascha Kampuschs Hilfsprojekt in Sri Lanka gibt es auch in der ORF-Sendung "Thema" am Montagabend.
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