Album & Interview

Stromae: Die Rückkehr des belgischen Weltstars

Musik
03.03.2022 06:00

Neun lange Jahre liegt das letzte Album des belgischen Superstars Stromae zurück. Dazwischen liegen eine hartnäckige Krankheit, die Geburt seines Sohnes und gefühlt zwei Generationen von neuen Musikern. Mit „Multitude“ gelingt dem bald 37-Jährigen Paul Van Haver aber ein musikalisches als auch inhaltliches Statement für Gemeinschaft, Lebensfreude und Kampfgeist. Wir haben mit ihm über seine harten Phasen und das neue Werk gesprochen.

(Bild: kmm)

Paul Van Haver aka Stromae war schon immer gut für den ganz besonderen Auftritt. Als er vergangenen Jänner in einer Nachrichtenshow des Senders TF1 zu seinem neuen Album „Multitude“ interviewt wurde, beantwortete er die Frage nach seiner seelischen Gesundheit vermeintlich spontan mit der Single „L’Enfer“ („Die Hölle“). Der geschickte Marketingstunt ging auf, die Meinungen spalteten sich in zwei Lager. Die einen waren schockiert davon, wie man eine seriöse Nachrichtensendung für drei Minuten in eine Werbeschiene verwandelte. Andere lobten Stromae ob der Genialität, in einer Welt voll offen ausgespielter Karten noch einen Weg gefunden zu haben, neuartig für Aufregung zu sorgen. Das Interview sei in seiner gesamten Form nicht abgesprochen worden, beruhigte der Belgier später die Gemüter, nur eben dieser eine Teil, der zum spontan gesungenen und emotional enorm intensiv aufgeführten Lied führte. Für Aufmerksamkeit und Wirbel sorgte der bald 37-Jährige schon immer.

Achterbahnfahrt des Lebens
Mit seinem Debütalbum „Cheese“ wurde Stromae 2010 zum größten Popstar der französischsprachigen Welt. 8,5 Millionen Exemplare hat er davon verkauft, noch bevor die große Streaming-Welle einsetzte und die Hit-Single „Alors on danse“ setzte sich in 19 Ländern an die Spitze. Anstatt als fulminante Eintagsfliege in die Musikgeschichte einzugehen, legte er drei Jahre später den Albumnachfolger „Racine carée“ nach und hielt sich damit fünf Jahre lang in den französischen Charts. Dort verband er erstmals all die multinationalen Einflüsse, die ihn noch heute auszeichnen. Französischer Chanson, kongolesischer Pop, etwas Afrobeat, der Hip-Hop, aus dem er eigentlich kommt und sanfte Ausflüge in die Elektronik. 2015 brach dann plötzlich die Hölle über ihn ein. Ausgelöst vom Malariamedikament Lariam musste er wegen Panikattacken seine Afrikatour abbrechen. Stromae erholte sich nicht davon. Halluzinationen, Angstzustände, Paranoia, Atemprobleme, eine verzerrte Realität.

Noch heute spricht er ungern von dieser Phase seines Lebens, Fragen danach sollen in Interviews möglichst ausbleiben. Die Rückkehr ins Rampenlicht war ein zäher. Ein bisschen mithelfen bei Coldplay, eine Single, Soundtrack-Beigaben, aber ansonsten war es lange ruhig. Erst im Herbst 2020 kündigte er neue Musik an, die nun in Form des dritten Albums „Multitude“ vorliegt. Neun Jahre nach dem letzten Werk setzt Stromae wieder auf den Gipfelsturm an die Chartspitze an, auch wenn sich das Musikbusiness während seiner notwendigen Seelenreinigung um 180 Grad gedreht hat. Seine Krankheit handelt er schon im Opener „Invaincu“ ab, wie er der „Krone“ im Interview erzählt. „Ich habe die Krankheit überlebt und bin unbesiegbar. Das ist die Botschaft. Der Song soll das Leben feiern. Man muss nicht immer nur an das Schlechte denken, sondern soll sich auch der Schönheit des Seins hingeben können. So wird der persönlichste Song auf dem Album massentauglich.“

Lächeln ist zurück
Stromae war es immer wichtig, persönliche Songs (früher etwa über seinen im ruandischen Völkermord verstorbenen Vater) so weit wie möglich zugänglich zu machen. So ist auch „Multitude“ eine Reise durch Paul Van Haver, ohne sich aber zu sehr in Paul Van Haver zu verbeißen. „Es geht um die verschiedenen Persönlichkeiten, die in mir wohnen, aber auch um all die Einflüsse, die auf dem Album Einzug gefunden haben. Ich stand an einem stinknormalen Tag unter der Dusche und plötzlich ploppte dieser Begriff auf. Mein Bruder sagte einmal zu mir, dass ich aus verschiedenen Charakteren bestehen würde. Außerdem ist ,Multitude‘ ein Wort, das Tradition und Folklore vermischt.“ „Folklore“ hätte Stromae noch lieber als Albumtitel gewählt, da kam ihm aber Superstar Taylor Swift zuvor, wie er lachend hinzufügt. Das charmante Lächeln des groß gewachsenen Musikers und Modelabelbetreibers ist endgültig wieder zurückgekehrt, das hört man „Multitude“ auch an.

Das Werk feiert das Leben und die Liebe. Es ist nicht nur ein Statement für die Wiedergeburt eines jahrelang in der eigenen psychischen Isolation befindlichen Künstlers, sondern auch die richtige musikalische Antwort auf eine Welt, die in allen Bereichen aus den Angeln gehoben wird. Die Single „Santé“ etwa ist ein vertontes Dankeschön an all die Toilettenfrauen, Flugbegleiterinnen und Pflegekräfte, die dann im Einsatz sind, wenn andere es brauchen. „C’est que de bonheur“ („Nichts als Freude“) ist ein loser Nachfolger seines Hits „Papaoutai“ und spielt nun nicht auf Stromaes Vater an, sondern auf ihn selbst. Er wurde im September 2018 selbst Vater eines Sohnes, was sein Weltbild völlig verändert hat. „Der Song schaut ein bisschen in die Zukunft und handelt von der Zeit, wo er das Haus verlässt, um auf seinen eigenen Beinen zu stehen. Derzeit weiß ich nur, was es heißt, Vater eines Dreijährigen zu sein, aber den Kreislauf des Lebens kann man nicht aufhalten. Für mich ist die Musik wie ein Job. Ich habe von 8 bis 17 Uhr daran gearbeitet und war davor und danach immer für meinen Sohn da. Mein Leben ist heute wesentlich ausgewogener als früher und ich habe keine große Lust auf Arbeiten, wenn ich daheim bin.“

Eine einzige große Mischung
Van Haver hat gelernt, dass sich gute Musik mit einem gesunden und normalen Lebensstil verbinden lässt. Die eingangs erwähnte Vielseitigkeit des Vorgängers zieht sich auch auf „Multitude“ durch. So hört man einen bulgarischen Chor und Instrumentalisten aus Bolivien, Peru oder China. Der Hip-Hop bleibt die Basis von Stromaes Tracks, aber von dort streuen unzählige andere Subgenres und klangliche Nischen ein leuchtend buntes Soundprisma aus. Stromae hat die Entwicklungen der letzten Jahre freilich genau beobachtet. „Seit ich meine Pause antrat, gab es eigentlich schon zwei Generationen von Musikern. Es ist interessant zu sehen, was sich am Markt tut und wie sich der Sound entwickelt. Ich liebe Popmusik genauso wie Weltmusik. Ich war stark inspiriert von mongolischen Klängen, von türkischem Rock und brasilianischem Funk. Auf ,Multitude‘ vermische ich nur die Musik, die ich liebe, mit all diesen Einflüssen, die sich neu bei mir entwickelt haben.“

Gemeinsam mit seinem Bruder hat er lange und akribisch an den Songs gearbeitet. Sie immer wieder umgeschrieben und umgeschichtet, denn nach der Zwangspause hatte sich niemand was erwartet und Stromae hatte alle Zeit der Welt. So bleibe neben den vielen positiv konnotierten Songs und den wenigen über seine eigenen Dämonen auch noch Platz für eine ganz besondere Reise. „Fils de joie“ spricht das Thema Prostitution aus unterschiedlichen Perspektiven an. „Ich habe eine Doku gesehen, wo der Sohn einer Prostituierten interviewt wurde und war schockiert. Den Song habe ich filmisch aufgebaut und mich in verschiedene Rollen begeben. In den Sohn, den Zuhälter oder den Polizisten, nur niemals in die Prostituierte selbst. Ich will damit aufzeigen, wie schnell manche gebrandmarkt und entmenschlicht werden. Dem Unsichtbaren ein Gesicht geben.“ Stromae bleibt auch nach seiner Rückkehr der etwas andere Popstar. Moral und Gewissen ohne erhobenen Zeigefinger. Realität und Fiktion, vermischt in einer schummrigen Melange. Er bleibt der Meister der Zwischentöne.

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