Skurriler Gutachter

Die menschliche Terroristen-Suchmaschine

Ausland
15.05.2011 18:24
Ein 31-Jähriger verbringt seit mehr als einem Jahrzehnt seine Tage (und Nächte) damit, in den dunkelsten Winkeln des Internets zu lauern, dort wo Dschihadisten Sympathisanten aus allen Teilen der Welt rekrutieren. Er hat in mehr als zwei Dutzend Gerichtsverfahren ausgesagt, US-Behörden und auch Medien greifen auf sein Fachwissen als Extremismus-Experte zurück. Er trägt den Spitznamen "Doogie Howser des Terrorismus", andere nennen ihn eine "Hure des Gerichts", und Hollywood will seine Geschichte auf die Leinwand bringen. Willkommen in der skurrilen Welt von Evan Kohlmann.

Wer ist Evan Kohlmann (im Bild in einer Gerichtszeichnung)? Der amerikanische Journalist Wesley Jang beschäftigte sich in seinem Artikel für das US-Magazin "New York" ausführlich mit dieser Frage. Unter dem Titel "The Terrorist Search Engine" kam dabei eine Geschichte über den unglaublichen, jedoch auch kontroversiellen Aufstieg eines jungen Mannes zu einem der profiliertesten Terrorismusexperten der Vereinigten Staaten heraus.

Den Spitznamen "Doogie Howser des Terrorismus" (in Anlehnung an die US-Serie über ein junges Arzt-Genie), den der mittlerweile 31 Jahre alte Kohlmann selbst am liebsten los wäre, gab ihm ein FBI-Agent im Jahr 2002, als er - 23 Jahre alt - beratend an einem Fall arbeitete. Doch trotz seines jugendlichen Aussehens sollte der Mann nicht unterschätzt werden.

Terrorismus-Gutachter Nummer Eins
Seit seinem 18. Lebensjahr ist Kohlmann von der Thematik Dschihad fasziniert. Als Gerichtssachverständiger der US-Regierung sagte er in 17 Terrorismus-Fällen in den USA und in neun weiteren in Übersee aus, was ihn de facto zum Gutachter Nummer eins in solchen Fällen macht. Kohlmann wird engagiert, um Geschworenen Unterricht über die Geschichte und Struktur von Al-Kaida und deren Methoden zur Finanzierung und Mitgliederrekrutierung zu geben. Seine Expertise trug bisher zur Verurteilung 23 Angeklagter in US-Bundesgerichten und Militärkommissionen in Guantanamo bei. Über seine Website flashpoint-intel.com stellt der 31-Jährige seine Beraterdienste international zur Verfügung.

Beweise aus dem World Wide Web
Kohlmanns unentbehrliche Quelle für Beweise ist das World Wide Web. Schon kurz nach den Anschlägen vom 11.September 2001 argumentierte er, das Internet helfe Terroristen nicht nur bei ihrer Organisation, sondern diene auch als Rekrutierungswerkzeug, um Dschihad-Sympathisanten ohne jegliche Al-Kaida-Verbindung zu Terroristen zu machen. Erschien diese Vorstellung früher exzentrisch, füllten in den letzten Jahren regelmäßig "hausgemachte" Terroristen, radikalisiert via Internet, die Titelseiten von Zeitungen rund um den Globus auf.

So stand der Militärpsychologe Major Nidal Malik Hasan, bei dessen Amoklauf auf dem Militärstützpunkt "Fort Hood" 2009 13 Menschen ums Leben kamen und 42 weitere verletzt wurden, in direktem E-Mail-Kontakt mit dem Al-Kaida-Anführer Anwar Al-Awlaki. Ebenso Umar Farouk Abdulmutallab, der im Dezember 2009 in Detroit versucht hatte, eine Bombe an Bord des Northwest-Airbus mit 289 Menschen an Bord zu zünden.

Mit Analyse der Zeit weit voraus
Als im Vorjahr Pläne bekannt wurden, die CIA und Google würden in eine Firma investieren, die das Internet gezielt nach Open-Source-Nachrichten der Dschihadisten durchsuche, wurde damit auch zugleich der Wert bestätigt, den die ein Jahrzehnt umfassende Arbeit Kohlmanns und einer kleine Gruppe gleichgesinnter privater Analysten darstellt. Man könne nicht abstreiten, dass Kohlmann eine Liste an analytischen Erfolgen vorzuweisen habe, meint etwa der international renommierte Anti-Terror-Experte und Buchautor Jarret Brachmann. Ihm zufolge sei Kohlmann, was zum Beispiel den Aufstieg von Al-Kaida auf der arabischen Halbinsel betreffe, mit seiner Analyse der Zeit weit voraus gewesen.

Doch Kohlmanns Erfolge werden immer wieder von Kontroversen überschattet. Für seine Bewunderer legt er genau die Art von unermüdlicher Obsession an den Tag, die notwendig sei, um die Bedrohung durch Fanatiker erfolgreich zu bekämpfen. Da sich Kohlmann aber mittlerweile in einer derart großen Anzahl an Fällen als Gutachter zur Verfügung gestellt hat, schuf er sich damit auch eine Reputation unter Gelehrten als eine Art Leiharbeiter der "Schuldspruchindustrie", wie es Fawaz Gerges, Professor an der London School of Economics, nennt.

Ein anderer Terrorismus-Experte bezeichnet Kohlmann als "Hure des Gerichts", der fundamentale Analysefehler mache und sich im Zeugenstand an einer Charade der Fachkompetenz beteilige. Laut Jonathan Turley, Verfassungsrechts-Professor an der George-Washington-Universität, sei Kohlmann gar "mittels Aquaponik im Keller der Bush-Regierung gezüchtet worden". Kohlmann selbst sagt, er gebe vor Gericht lediglich davon Zeugnis, was er im Internet sehe - und was er sieht, mache ihm Angst.

125.000 US-Dollar im Jahr als Gutachter
Im letzten Jahrzehnt stellte Kohlmann eine der weltgrößten Sammlungen von Dschihad-Material zusammen – Terabytes an Predigten, Fatwas, Newslettern, Messageboard-Diskussionen und Videos, ganz besonders Videos: Hunderte Stunden von Terroristen-Trainingslagern, Märtyrern beim Verkünden ihres letzten Willen, Live-Material der Kriegsschauplätze im Irak und in Afghanistan, Enthauptungen und verbrannte Körper. Er katalogisiert dieses Material zur einfachen und schnellen Abfrage durch Ermittlungsbehörden, die damit Namen mit Gesichtern verbinden zu hoffen oder durch Medienproduzenten, die ihre Nachrichtenreportage illustrieren möchten. Als Gerichtsgutachter kann Kohlmann, ohne Arabisch zu sprechen und ohne ein Doktorat in einem zur Thematik in Beziehung stehenden Forschungsbereich vorzuweisen, jährlich rund 125.000 US-Dollar verdienen, als Konsulent für die US-Regierung noch um einiges mehr.

Arbeit hat Privatleben ausgelöscht
Der menschliche Preis, den Kohlmann für seine umfangreiche Arbeit zahlt, ist jedoch hoch: "Ich lerne die Menschen, die ich studiere, oftmals näher kennen, als die Mitglieder meiner eigenen Familie", erzählte Kohlmann einmal vor Gericht. Die Ansprüche seiner Arbeit und die vielen Stunden, die er im Internet verbringe, hätten sein Privatleben ausgelöscht. "Ich gehe niemals aus", gestand er dem Journalisten Wesley Yang. Einmal habe er, so Kohlmann, eine Frau mit nach Hause genommen. Sie erschrak, als sie sich plötzlich von einem Dutzend Bildern von bärtigen Dschihadisten umgeben sah. Auf ein Bild von Abu Hamza Al-Masri, den entstellten radikalen Prediger mit Haken als Händen, zeigend, sagte die Frau zu Kohlmann: "Diesen Typen musst du von deiner Wand nehmen."

Skurrile Lebensgeschichte bald im Kino
Interesse an einer Filmversion von Kohlmanns Leben bekundete vergangene Woche der Hollywood-Produzent Scott Rudin. Rudin produzierte u. a. Filme wie "True Grit", "No Country For Old Men" und "The Queen". Zuletzt brachte er mit "The Social Network" die Geschichte des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg erfolgreich ins Kino. Von Zuckerberg scheint der Weg nun nicht weit zum Computerfreak Evan Kohlmann.

Auch der Journalist Wesley Yang sah beim Schreiben seiner Reportage von Anfang an eine sehr filmische Geschichte in Evan Kohlmanns Leben, die folgendermaßen beginnen könnte: "11. September 2001 war Evan Kohlmanns erster Tag an der juristischen Fakultät an der Universität von Pennsylvania. Als er die Nachrichten hörte, stand er auf, um zu gehen, und sagte zu einem Studenten, der neben ihm saß: 'Das war ein Angriff von Osama bin Laden und ich muss etwas dagegen unternehmen.'"

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