31.12.2021 08:00 |

„Krone“-Kolumne

„Sexsüchtig?“ Der Nachbar im Erdgeschoss

Soziologin und Sexualpädagogin Barbara Rothmüller diesmal über eine sexualwissenschaftliche Kontroverse.

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Als Jerry eines Tages die Grippe hat und zu Hause ist, entdeckt er, dass Ehefrau Beth mit dem Nachbarn im Erdgeschoss ihres Hauses Sex hat. Tief verstört, sucht er Hilfe bei einer Familientherapie. Stellt sich heraus: Das Ehepaar mit vier Kindern ist nicht nur ständig betrunken, sondern hat auch ihre Partnerschaft durch Sexsucht zerstört. Erst eine Behandlung der Sexsucht von Beth kann ihre Ehe retten. Happy End?

Was nach der Handlung eines schlechten Films klingt, ist eine Fallgeschichte, die 2009 in der englischsprachigen Zeitschrift für Familientherapie publiziert wurde. Sexsucht ist eine populäre Verhaltensdiagnose - und seit Jahren Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen. Angeblich seien vier von zehn Menschen sexsüchtig, befeuern Panikmacher die schlimmsten Befürchtungen. Sexsüchtige würden Partnerschaften zerstören, indem sie zu viel an Sex denken und zu viel Sex haben, um sich abzulenken.

Affären, Pornos, Sextoys, Masturbation, Cybersex, sexuelle Dienstleistungen. Fast jedes Verhalten (außer der unverdächtigen ehelichen Missionarsstellung) könnte bereits Teil einer gefährlichen „Lüsternheit“ sein, die die Liebesfähigkeit in der modernen Gesellschaft „verkrüppeln“ lässt. Das ist zumindest die düstere Prognose, wenn man den „Anonymen Sexaholikern“ glaubt. Solche Selbsthilfegruppen nach dem Vorbild der Anonymen Alkoholiker versprechen, die traditionelle Familie zu retten, indem sie den Lüsternen helfen, „sexuell nüchtern“ zu werden, eine Zuwendung zu Gott und Spiritualität inklusive. Leider ist das Humbug.

Bereits der Begriff „Sexsucht“ ist unwissenschaftlich. Es gibt keine anerkannten Diagnosekriterien und keine anerkannte Therapie. Was zu viel oder zu wenig Lust auf Sex ist, lässt sich allgemein nicht sagen. Gerade beim Thema „Sexsucht“ besteht eine große „Gefahr von Fehldiagnosen aufgrund der eigenen Voreingenommenheit von Klinikern in Bezug auf kulturelle Werte, sexuelle Orientierung und Religiosität“, warnt ein aktueller Artikel, der 2021 in der Fachzeitschrift Sexual and Relationship Therapy publiziert wurde.

Ob Sexualität einer Behandlung bedarf, hat wenig damit zu tun, wie oft man Sex hat. Jugendliche erzählen Sexualpädagoginnen manchmal, dass sie „sexsüchtig“ seien, wenn sie „öfter als normal“ masturbieren. Aber ein Normalmaß bei Sexualität gibt es nicht. Und man sollte sich auch nichts anderes einreden lassen. Das einzige, was als „Störung“ gelten kann, ist eine Störung der sexuellen Impulskontrolle, also wenn Menschen die Kontrolle über ihr sexuelles Verhalten verlieren. Sie wiederholen dann zwanghaft eine Form von Sex, die ihnen eigentlich keinen Spaß macht, zunehmend ihr Leben dominiert, und ihnen oder anderen Menschen schadet. Dauert ein solcher Kontrollverlust länger als sechs Monate (!), kann Psychotherapie helfen.

Wenn man es allerdings nicht schafft, nach den eigenen Wertvorstellungen zu leben, ist das etwas anderes als eine behandlungsbedürftige Krankheit. Es ist wie mit den Neujahrsvorsätzen: Bester Vorsatz, aber ohje, auch letztes Jahr haben wir wieder mehr gegessen, als wir eigentlich wollten. In einem solchen Fall sollte man vielleicht die unrealistischen Vorsätze hinterfragen. Die radikale Fastenkur, das wissen wir, lässt sich meistens nicht lange durchhalten. Insofern Prosit, stoßen Sie an mit Ihren Nachbarn, ich wünsche Ihrem Jahr 2021 ein Happy Ending!

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