Folgen von Corona

Pandemie: „Bei Kindern ist alles viel extremer“

Tirol
05.08.2021 09:00

Man könnte oftmals meinen, Corona sei vorbei. Doch besonders Kinder und Jugendliche tragen immer noch die seelischen Spuren, die diese schwierige Zeit bei ihnen ausgelöst hat.

Die Corona-Krise hat Kinder und Jugendliche besonders schwer getroffen: Depressive Symptome, Angststörungen, Schlafstörungen, Essstörungen – die Zahlen gingen rapide nach oben. Die „Krone“ will nun wissen: Wie ging es jenen Kindern und Jugendlichen, die es schon vor der Krise nicht leicht gehabt haben?

Um das herauszufinden, besuchten wir das „Tipi“ des SOS Kinderdorfs. Christian Rudisch ist Leiter der Wohngruppe (WG) Tipi in Absam und einer WG in Innsbruck, Wolfram Brugger ist Leiter aller Angebote in Innsbruck, Hall und Absam und der Ambulanten Familienarbeit Tirol. Im „Tipi“ wohnen normalerweise Kinder von drei bis zwölf Jahren. Wenn aber kein anderer Platz frei ist – was vorkommt – sind auch Jugendliche dort untergebracht. „Das sprengt eigentlich den Rahmen, aber einen Jugendlichen in Not lassen wir nicht vor geschlossenen Türen“, sagte Rudisch. Eine Jugendliche verpassten wir knapp. Kurz bevor wir eingetroffen sind, wurde sie mit dem Notarzt in die Klinik gebracht. Sie hatte sich „aufgeschnitten“, also durch Ritzen selbst verletzt. Das kommt nicht selten vor, obwohl man es sich in diesem Moment nur schwer vorstellen kann: Die Sonne scheint, Kinder laufen lachend umher.

Verschärfte Symptome
„Corona fungiert wie eine Brennlinse“, betonten die Leiter, „jene Kinder, die ohnehin schon Ängste hatten, haben dann noch einmal verschärft diese Symptomatik präsentiert.“ Die Kleinen, die ins Kinderdorf kommen, haben alle ihre Pakterl am Rücken zu schleppen. „Die Symptome machen sich ganz unterschiedlich bemerkbar. Die einen verarbeiten es so, dass sie anfangen, sich selbst zu schädigen. Sie sind mit Worten nicht mehr erreichbar, teilweise müssen sie sogar fixiert werden. Heute haben wir Gott sei Dank bisher noch keine Polizei benötigt“, schilderte Rudisch, „es gibt aber auch jene Kinder und Jugendliche, die auf ihre Ängste mit völligem Kontaktabbruch reagieren. Sie können keinen Bezug mehr zu anderen Menschen herstellen. Und dann gibt es jene – und das sind vor allem die Burschen – die laut und aggressiv werden. Eigentlich ist es bei uns allen so: Manche richten ihre Verzweiflung nach innen, manche nach außen. Nur bei den Kindern ist alles viel extremer.“

„Alles kommt heraus“
Anders als früher sind im Kinderdorf kaum mehr Waisenkinder. Die Kinder dort haben Eltern. Diese sind nur meist so überfordert, dass die Kinder- und Jugendhilfe unterstützend eingreifen muss. Die Anfragen seien während Corona extrem gestiegen, erklärten Rudisch und Brugger, teilweise kam es zur Überbelegung: „Wir sind wirklich brechend voll.“

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Anders als früher sind im Kinderdorf kaum mehr Waisen. Die Kinder haben Eltern. Diese sind nur oft so überfordert, dass die Kinder- und Jugendhilfe eingreifen muss.

Wolfram Brugger, Leiter in Innsbruck, Hall und Absam

Die Betreuer sind extrem gefordert: Untertags sind zwei bis drei im Dienst, in der Nacht und am Wochenende nur einer, was teilweise mit Praktikanten kompensiert wird. Die Kinder sind zu acht. Kleinere Gruppen wären besser, denn die Kleinen benötigen viel Aufmerksamkeit. Sie hatten teilweise noch nicht die Gelegenheit zu lernen, wie man mit seinen eigenen Gefühlen umgeht.

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Es ist wie bei einem Kleinkind, das alles artikuliert und nichts für sich behalten kann. Genau das erleben auch wir rund um die Uhr: Es kommt immer alles raus.

Christian Rudisch, Leiter der Wohngemeinschaft Tipi in Absam

„Es ist wie bei einem Kleinkind, das alles artikuliert, da es nichts für sich behalten kann – weder Hunger noch Angst oder Langeweile. Und genau das erleben auch wir rund um die Uhr: Es bleibt wenig drin, es kommt alles heraus. Und dann schaukeln sich die Kinder auch noch hoch in ihrer Emotionalität. Bei acht Klienten wird das irgendwann unüberschaubar“, gibt Rudisch seine langjährigen Erfahrungen preis.

Mit Zeit und viel Geduld
Doch die Betreuer sind bestens geschult. Mit Angstkompetenz und Unsicherheit umgehen zu können, gehört zu ihrem Beruf. Sie entschleunigen für die Kinder den Alltag, geben ihnen Sicherheit, so gut es eben geht.

Trotz allem gibt es auch positive Seiten. Wie die Geschichte von einem Burschen, der kaum zu bändigen war. Aggressiv gegen jeden und alles, ein Betreuer nach dem anderen hatte gekündigt. Schließlich wurde beschlossen, mit ihm auf eine Hütte zu wandern – alleine, so musste er sich die Aufmerksamkeit mit niemandem teilen. Er schien beeindruckt davon zu sein, dass eine Frau mit ihm stundenlang durch den Schnee gestapft ist. Und siehe da: Mit etwas Zeit und Geduld hatte er sich beruhigt, seither gab es keine Eskalationen mehr.

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