Markus Hengstschläger:

„Die Pandemie spaltet unsere Gesellschaft“

Oberösterreich
05.03.2021 16:00
„Der Mensch ist ein soziales und lösungsbegabtes Wesen“, ist Markus Hengstschläger (52) überzeugt. Dennoch sieht er unsere Gesellschaft in eine ansteigende „Mitmachkrise“ schlittern, obwohl die Corona-Pandemie noch gar nicht zu Ende ist. Wie es dazu kommt, schildert er der „Krone“.

„Krone“: Wie lautet Ihre Bilanz von einem Jahr Pandemie?
Markus Hengstschläger: Vorweg: Ich bin kein Arzt, kein Virologe oder Epidemiologe. Ich bin Genetiker. Aber ich glaube, ein Phänomen, mit dem wir uns auseinander setzen müssen, wird immer wichtiger: Das Virus ist am Anfang der Pandemie auf eine andere Gesellschaft getroffen als jetzt.

„Krone“: Wie war es am Beginn?
Hengstschläger: Niemand hat genau gewusst, was jetzt ist. Alle haben gesagt: „Hoffentlich geht das schnell vorbei.“ Das war für uns alle ähnlich.

„Krone“: Und jetzt, Monate später?
Hengstschläger: Es sind Spaltungseffekte entstanden. Jetzt gibt es Menschen, für die war die Pandemie bisher ohne großen Einfluss. Andere haben ihren Job verloren. Es gibt die Jungen, die Alten, die Vulnerablen, die Geimpften und Nicht-Geimpften...

„Krone“: Wohin werden denn diese Spaltungen führen?
Hengstschläger: Um gemeinsam aktuelle Probleme lösen zu können, brauchen wir eine kollektive Lösungsbegabung. Aber durch die Spaltungen wird die Motivation dazu von Tag zu Tag mehr gefordert. Das ist das Thema, das uns jetzt beschäftigen sollte.

„Krone“: Jeder braucht viel Energie, rücksichtsvoll nach vorne zu schauen.
Hengstschläger: Die Frage ist auch: Wie werden wir in der Gesellschaft mit den Spaltungen umgehen, wenn wir durch die Pandemie gegangen sind? Also danach. Da ist die Politik gefordert, aber vor allem auch wir alle.

„Krone“: Sie sprechen von einem neuen Biedermeier. Wo sehen Sie das?
Hengstschläger: Man hat zu Hause alles so eingerichtet, dass man mit der Welt kommunizieren kann. Das ist notwendig in der Pandemie. Aber die Qualität der Auseinandersetzung mit anderen Menschen ist verändert, der Medici-Effekt leidet.

„Krone“: Der Medici-Effekt?
Hengstschläger: Die Medicis waren eine reiche Familie, die es ermöglichte, dass Schnittstellen von Menschen verschiedener Fachrichtungen, verschiedener Kulturen entstanden. Handwerker trafen auf Politiker, Wissenschaftler auf Künstler – ein Boden für kreative Ideen und neue Innovationen. Dieser Medici-Effekt hat die florentinische Renaissance beflügelt.

„Krone“: Und diese Schnittstellen haben wir derzeit nicht.
Hengstschläger: Genau. Wir müssen uns fragen, wenn wir nur mehr zu Hause vor dem Bildschirm sitzen, ob das die Qualität hat, um Inspirationen, Geistesblitze zu kreieren? Viele Dinge, die unser Leben prägen, waren zufällige Entdeckungen und sind auf Nebenschauplätzen entstanden.

„Krone“: Denken Sie schon an die Zeit nach der Pandemie?
Hengstschläger: Ja, was machen wir mit all den anderen globalen Themen, die höchst dringend erledigt werden müssen?

„Krone“: Was ist dringend?
Hengstschläger: Die globale Erwärmung. Ich überlege, was wir aus den Erfahrungen mit der Pandemie mitnehmen können.

„Krone“: Derzeit reagieren Menschen unterschiedlich, einige gehen in Widerstand.
Hengstschläger: Ich spreche gerne von drei Gruppen von Menschen, wohlwissend, dass es natürlich alle Übergänge gibt.

„Krone“: Die erste Gruppe?
Hengstschläger: Die „blauäugigen Optimisten“. Sie sagen: „Ach, das geht sich schon aus. Die werden das schon richten.“ Mit „die“ sind immer die anderen gemeint, oft Politiker und Wissenschaftler. Der Einzelne aber tut nichts, er ist in einer Mitmachkrise.

„Krone“: Die zweite Gruppe?
Hengstschläger: Eingefleischte Pessimisten. Sie argumentieren: „Das geht sich sowieso nicht mehr aus.“ Sie sind ebenfalls in einer Mitmachkrise. Und sie meinen der Mensch wäre im Grunde schlecht, das sei das Ergebnis der Evolution.

„Krone“: Ist der Mensch wirklich schlecht?
Hengstschläger: Er ist weder gut noch schlecht. Er ist das Produkt der Wechselwirkung aus Genetik und Umwelt. Der Mensch ist grundsätzlich vernunftbegabt, sozial und lösungsbegabt. Nur müssen wir uns darauf auch öfter besinnen.

„Krone“: Auf wen kommt es aber dann wirklich an?
Hengstschläger: Auf die dritte Gruppe. Ich hatte am Anfang der Pandemie das Gefühl, die haben auch das Ruder übernommen. Man kann sie „Possibilisten“, oder „Ermöglicher“ nennen. Sie sagen: „Die Situation ist nicht einfach, aber in der Geschichte der Menschheit war es oft nicht einfach.“ Sie sehen, was wir mit unseren Begabungen in den letzten Jahrhunderten alles erreicht haben. Natürlich wäre viel mehr möglich, denn noch immer hungern Menschen.

„Krone“: Wie werden die „Ermöglicher“ sichtbar?
Hengstschläger: Sie sagen: „Wenn ich meinen Beitrag leiste, werden wir das schaffen“. Am Anfang der Pandemie gab es viel Solidarität. Die Lehre, die wir ziehen sollten, heißt daher: Es kommt auf die Kraft des Individuums an! Das brauchen wir auch beim Klimawandel oder etwa bei der Flüchtlingsthematik.

„Krone“: Und zu welcher Gruppe zählen Sie sich?
Hengstschläger: Bei einigen Themen habe ich das Gefühl, dass ich als „Ermöglicher“ vielleicht einen Beitrag leiste. Bei anderen Themen ist noch Luft nach oben – ich gebe es zu. Aber ich arbeite daran.

Markus Hengstschläger ist in Oberösterreich aufgewachsen, lebt in Wien. Der vielfach ausgezeichnete Genetiker ist auch Bestsellerautor. Zuletzt erschien „Die Lösungsbegabung: Gene sind nur unser Werkzeug. Die Nuss knacken wir selbst!“ im Verlag Ecowin: Ein lesenswertes Plädoyer, die „Mitmachkrise“ zu überwinden.

Elisabeth Rathenböck, Kronen Zeitung

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