Briefwahl, Werbung

Filzmaier analysiert: Was die Wahl entscheidet

Wien
13.09.2020 06:00

Am 11. Oktober wählt Wien seinen Landtag und Gemeinderat sowie 23 Bezirksvertretungen. Mit Schulanfang hat der Intensivwahlkampf begonnen. Ibiza und Corona können dazu führen, dass die größten Stimmenverschiebungen in der Geschichte bevorstehen. Die Analyse von Professor Peter Filzmaier!

Die Ausgangslage: Zuletzt - 2015 - lag die SPÖ fast 10 Prozentpunkte vor der FPÖ. Ein echtes Rennen um den ersten Platz gab es nie, das haben Sozialdemokraten und Freiheitliche in seltener Einigkeit immer nur vorgetäuscht. Um ihre Anhänger zu motivieren. Nach dem Spesenskandal und Parteiausschluss von Heinz-Christian Strache wird die FPÖ auf die Hälfte bis ein Drittel schrumpfen oder gar gevierteilt. Die SPÖ ist sicher meilenweit vor dem Zweitplatzierten. Was in Wien Normalität und wenig aufregend ist.

Die Koalitionsfrage: Die SPÖ versucht aus taktischen Gründen, verzweifelt eine türkis-grün-rosa Mehrheit als - nach aktuellem Umfragestand gar nicht mehrheitsfähiges - Feindbild herbeizureden. In Wahrheit geht es darum, mit wem Bürgermeister Michael Ludwig regieren wird. Es kommen Grüne und ÖVP - diese müsste nach einem Debakel mit von unter 10 Prozent ihren Stimmenanteil verdoppeln - sowie rein theoretisch die Neos infrage. Wollen würden alle drei, doch übertreffen sie sich bei der Regierungsbeteiligung im Herumeiern.

Die Wählerwanderung: 2015 waren da vor allem Verluste der SPÖ an die FPÖ, der ÖVP an die Neos und der Grünen an die SPÖ. Nichts davon ist heuer von Bedeutung. Verfügbar sind über 100.000 Ex-Stimmen der Freiheitlichen. Den Löwenanteil wird sich nach den Wahlerfahrungen aus dem Vorjahr von der Bundesebene bis in die Steiermark die ÖVP sichern. Zudem will Heinz-Christian Strache etwas mitnehmen, und die Sozialdemokraten wollen Wähler zurückholen. Was vielleicht nur prozentuell gelingt.

Die Wahlbeteiligung: Die große Unbekannte ist, wer zur Wahl geht. Es ist logisch, dass ehemalige Anhänger der FPÖ von dieser und Herrn Strache schlicht die Nase voll haben. Warum aber sollten sie deshalb ÖVP oder SPÖ mögen? Man kann auch zu Hause bleiben. Hinzu kommen Sorgen vor dem Coronavirus, was manche vom Weg ins Wahllokal abhält. Vor fünf Jahren beteiligten sich fast 75 Prozent, 2005 waren es etwa 60 Prozent. Es gewinnt derjenige, der am besten mobilisiert. Was früher meistens dem stark organisierten Dorfkaiser SPÖ half.

Die Briefwahl: Gar so leicht ist das diesmal für Michael Ludwig nicht. Die SPÖ punktet vor allem bei älteren Menschen. Unter Frauen über 60 Jahre hätte sie in Wien nie die absolute Mehrheit verloren. Menschen mit hohem Lebensalter sind aber sowohl Corona-Risikogruppe - und somit bei steigenden Infektionszahlen mit Ansteckungsängsten im Wahllokal - als auch nicht mit der Briefwahl aufgewachsen.

Die Werbung: Fast jeder zweite Wähler könnte per Brief abstimmen. Es wird für solche Stimmabgaben geworben, als gäbe es kein Morgen. Die Parteien reizen die Grenzen des Wahlrechts aus, weil ÖVP-Angebote „Wir besorgen die Wahlkarte für Dich!“ und städtische Informationen dazu mit Foto des SPÖ-Bürgermeisters gleichermaßen verboten sind.

Die Themen: 2015 drehte sich der Wahlkampf um Flucht und Asyl. 2020 kommt keine Partei am Corona-Thema vorbei. Die Virusdebatten drehen sich sozusagen um Leben und Tod. Also werden kaum Parkplätze oder ein Swimmingpool am Wiener Gürtel die Wahl entscheiden. Jobchancen, leistbares Wohnen und die Qualität des Gesundheitssystems sind trotzdem Dinge, die so oder so den Stadtwahlkampf dominiert hätten - und in der Corona-Zeit verstärkt werden.

Die Lebensqualität: Zugleich geht es um die Zufriedenheit mit dem Alltagsleben in Wien. Jene, welche hier die Qualität des Lebens mit Zuversicht sehen, werden mehrheitlich die Amtsinhaberpartei SPÖ wählen. Bei Wählern, die Sorge oder Angst empfinden, tut das eine Minderheit. Unklar ist, wer nach dem Absturz der FPÖ in diesem Wählerteich fischt. Gesellschaftlich heikel ist es, wenn die Bürger das Wiener Leben so gegensätzlich als ursuper oder „Sch…e“ wahrnehmen. Das zeigt soziale Ungleichheiten.

Die Medien: Wahlveranstaltungen in der Menschenmenge sind derzeit unmöglich. Hausbesuche haben einen schalen Beigeschmack. Niemand mag Maskierte vor der Wohnungstür. Unmaskierte Parteifunktionäre, die einen mit feuchter Aussprache vollquatschen, wären lebensgefährlich. Daher kommt es auf Fernseh- und Internetauftritte der Spitzenkandidaten an - und die Berichterstattung der Medien.

Die Kandidaten: Alle Parteivorderen sind Neulinge mit Luft nach oben. Michael Ludwig hat nicht Michael Häupls Beliebtheit. Dominik Nepp beeindruckt Wechselwähler null. Heinz-Christian Strache wurde vom Zugpferd der FPÖ zur Skandalspitze einer skurrilen Truppe. Birgit Hebein kam erst 2018 knapp an die Spitze der Grünen. Gernot Blümel bringt der ÖVP keine Stimmen, sondern schwimmt auf der Kurzwelle. Christoph Wiederkehr von den Neos wirkt wie ein braver Bundesschulsprecher, den keiner kennt.

Peter Filzmaier, Kronen Zeitung

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