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Wachstum im Eiltempo: So funktioniert China

Ausland
30.11.2014 12:34
35 Jahre nachdem sich das abgeschottete kommunistische Riesenreich für die Marktwirtschaft geöffnet hat, platzt China aus allen Nähten. Mega-Metropolen wie Peking mit geschätzten 30 Millionen Einwohnern nehmen heute Flächen ein, die in Österreich als Bundesland durchgehen, und wachsen so schnell, dass Stadt- und Verkehrsplaner kaum hinterherkommen. Wie die Menschen im Land des extremen Wachstums leben und vor welchen Problemen sie stehen, hat krone.at-Reporter Dominik Erlinger in Peking, Shanghai und Shenzhen untersucht.

Das, was sich Touristen in ihrer romantischen Vorstellung als typisch chinesisch vorstellen, gibt es heute fast nicht mehr. Weitläufige Viertel mit traditionell chinesischen Wohnhäusern mit ihren aufwendigen Verzierungen wurden in Chinas großen Ballungsräumen in den letzten Jahrzehnten abgerissen und durch Siedlungen aus mehr als zehn Stockwerke hohen Plattenbauten ersetzt.

War früher das Fahrrad das Fortbewegungsmittel der Wahl, greift die rasant wachsende chinesische Mittelschicht heute auf das Auto zurück. Und wo früher Fischer ihren Geschäften nachgingen, stehen heute Mega-Fabriken, in denen Elektronik für die ganze Welt gefertigt wird. Kein Land der Erde hat sich in den vergangenen Jahrzehnten so rasant entwickelt wie China.

Großraum Peking hat 30 Millionen Einwohner
Das sieht man schon allein an der rasanten Urbanisierung und den immer zahlreicher und größer werdenden Millionenstädten Chinas. Der Großraum Peking beherbergt auf rund 100 Kilometern Durchmesser heute nach chinesischen Schätzungen rund 30 Millionen Einwohner – fast viermal die Einwohnerzahl Österreichs. Shanghai steht der Hauptstadt nur in wenig nach und fasst 24 Millionen Einwohner.

Und selbst eine Stadt, die es vor 30 Jahren noch nicht einmal gab, hat heute rund zehn Millionen Bürger: Shenzhen, eine aus einem zur Sonderwirtschaftszone erklärten Fischerdorf hervorgegangene Hightech-Metropole, in der aktuell – natürlich mithilfe typisch chinesischer Bambus-Gerüste - ein Wolkenkratzer neben dem anderen hochgezogen wird.

Rasantes Wachstum bringt neue Probleme
Dieses rasante Wachstum bringt 35 Jahre nach der Öffnung Probleme mit sich. Und viele davon sind im Westen nicht unbekannt: Wohnungsnot, Verkehrschaos, Umweltverschmutzung, soziale Ungleichheit.

Als krone.at-Reporter Dominik Erlinger bei seinen Recherchen in China einen jungen Bürger Shenzhens nach seiner Meinung zur Zensur befragte, antwortete dieser, freilich unter der Bedingung, nicht namentlich in diesem Artikel aufzuscheinen: "Wir haben hier weit größere Probleme als die Redefreiheit." Und auch wenn Redefreiheit ein hohes Gut ist, dürften viele Chinesen ihrem Landsmann Recht geben.

Wohnungsnot und Verlust traditioneller Architektur
Denn: In Städten, die an ihre Wachstumsgrenzen stoßen, haben die Bürger tatsächlich andere Sorgen. Geeigneten Wohnraum zu finden, beispielsweise. In Mega-Städten wie Peking oder Shanghai schießen die Plattenbauten zwar in erstaunlicher Geschwindigkeit in die Höhe und degradieren klassische Architektur zur Touristenattraktion.

Erschwinglichen Wohnraum finden die Durchschnittsverdiener trotzdem nur am Stadtrand, die wenig einladenden Plattenbauten der Innenstädte sind reichen Chinesen vorbehalten. Kurios: In Peking sind nur mehr fünf Prozent der alten, traditionellen Bausubstanz vorhanden. Wo früher einfache Bürger lebten, mieten sich deshalb heute für teures Geld reiche Chinesen ein, die ein Faible für traditionelles Wohnen haben. Angebot und Nachfrage regieren den Wohnungsmarkt des sozialistischen Riesenstaates.

"Bei Bildung ist Österreich sozialistischer als China"
Wobei: So sozialistisch ist er gar nicht mehr. "Bei der Bildung ist Österreich sozialistischer als China", stellte auch unser Gesprächspartner in Shenzhen erstaunt fest, als wir ihm erklärten, hierzulande könne jeder Maturant gratis studieren, was er möchte – einige Studienfächer mit Aufnahmetests ausgenommen. In China verhält es sich mit den Studienplätzen wie mit dem Wohnraum: Sie sind begehrt und nicht jeder kann studieren, wo und was er möchte.

Hinzu kommt der finanzielle Faktor: Ebenso wie ärmere Chinesen tendenziell nicht im Stadtzentrum wohnen, studieren sie auch nicht unbedingt an den beliebtesten und renommiertesten Universitäten des Landes. Vielmehr zeigt sich ein Bild, das dem kapitalistischen Bildungssystem in den USA ähnelt: Kinder reicherer Eltern haben aufgrund des elterlichen Vermögens tendenziell bessere Chancen als Kinder aus Arbeiterfamilien.

Harte Regeln gegen völliges Verkehrschaos
Konkurrenz ist in China aber nicht nur bei Wohnraum und Bildung allgegenwärtig, sondern auch auf der Straße. Hier konkurriert eine schneller als das Straßennetz wachsende Schar von Autofahrern um die Vorfahrt. Besonders extrem ist die Situation in der Hauptstadt Peking, deren Straßennetz aus einer rund hundert Kilometer langen Allee und bald neun den Stadtkern umschließenden Ringstraßen besteht. Wer hier ein Auto kaufen will, braucht nicht nur das nötige Kleingeld, sondern vor allem auch die Bewilligung der Stadtverwaltung.

In Gesprächen mit einer Einwohnerin erfuhren wir: Wer in Peking ein Auto anschaffen möchte, muss sich online für ein Nummerntaferl bewerben. Die Bewerbungsphase kann Monate dauern, und wenn das Kennzeichen ausgestellt ist, handelt es sich noch nicht um einen Garanten, auch fahren zu können. Wegen des massiven Stauproblems der Stadt hat die Verwaltung nämlich eine Regelung eingeführt, durch die an jedem Wochentag Besitzer bestimmter Kennzeichen, die durch ihre Endung bestimmt werden, mit Fahrverbot belegt werden. Wirklich reiche Chinesen gönnen sich deshalb zwei Autos – zur Sicherheit, falls eines Fahrverbot haben sollte.

Zum Teil dürfte das Fahrverbot auch mit Umweltproblemen in Zusammenhang stehen: Machte China in den vergangenen Jahren immer wieder mit extremer Smog-Belastung Schlagzeilen, geht die Regierung mittlerweile gegen die Luftverschmutzung vor. In den Straßen der chinesischen Megastädte fahren heute neben Autos und Motorrädern erstaunlich viele Elektro-Fahrräder und E-Mopeds herum. Die elektrischen Fortbewegungsmittel werden der Bevölkerung durch Förderungen und Vergünstigungen schmackhaft gemacht und tragen zu besserer Luft bei. Und auch der öffentliche Verkehr in den urbanen Regionen wird rasant ausgebaut – teils mit besonders spektakulären Großprojekten wie der 465 Kilometer langen Pekinger U-Bahn oder der 400 Kilometer pro Stunde schnellen Magnetschwebebahn in Shanghai.

Der Staat greift tief ins Leben der Menschen ein
Gelenkt wird all das, wie kaum in einem anderen Land der Erde, vom Staat. Und dessen Macht endet in China nicht etwa bei Bauvorhaben oder beim Verkehr, sondern zieht sich tief bis ins Privatleben der Menschen hinein. Etwa in Form der lange Zeit verfolgten Ein-Kind-Politik, mit der Peking das Bevölkerungswachstum eindämmen und China zu mehr Wohlstand verhelfen wollte.

Anfang der Achtziger als vermeintlich probates Mittel gegen Hungersnöte durch zu schnelles Bevölkerungswachstum eingeführt, hat die staatliche Intervention in die Familienplanung heute handfeste Probleme in der Bevölkerungsstruktur zur Folge. Ebenso wie Japan und westliche Staaten mit einer niedrigen Geburtenrate ist China heute mit der drohenden Überalterung seiner Bevölkerung konfrontiert, die Fragen hinsichtlich der Versorgung der Alten aufwirft. Pekings Lösung: Die Ein-Kind-Politik wurde vielerorts aufgeweicht, beispielsweise in großen Städten und bei Paaren, bei denen ein Partner Einzelkind ist.

Gewaltiges Wachstum als "Weltfabrik"
Junge Menschen im arbeitsfähigen Alter sind für China aber auch aus einem anderen Grund wichtig: Wie kaum ein anderes Land der Erde verlässt sich China bei seiner wirtschaftlichen Entwicklung auf die Industrie. Gigantische Fabriken haben das Land in den vergangenen Jahrzehnten zu jener Wirtschafts-Supermacht gemacht, die es heute ist. Unternehmen wie der Auftragsfertiger Foxconn, denen von Menschen, sondern sind auch das Rückgrat der globalen Hightech-Industrie.

Am Beispiel Foxconn: Das Unternehmen aus Taiwan hat in China mehr als 1,2 Millionen Arbeiter und fertigt 40 Prozent aller weltweit verkauften Elektronik. Das bedeutet, dass zwei von fünf Geräten, die in unseren Elektronikmärkten angeboten werden, aus einer chinesischen Foxconn-Fabrik stammen. Rechnet man andere Elektronik-Fertiger wie Quanta oder Pegatron dazu, die ebenfalls in China produzieren, erhöht sich dieser Prozentsatz noch. Und chinesische Konzerne wie der Telekom-Riese Huawei oder der PC-Weltmarktführer Lenovo mit eigenen Werken steigern diese Quote weiter.

Der Wachstumsmotor gerät ins Stottern
Da verwundert es kaum, dass China oft als "Weltfabrik" gesehen wird, in der günstige Arbeitskräfte Unmengen an Produkten für Konsumenten am ganzen Globus produzieren. Das ganz große Wirtschaftswachstum durch diese Strategie ist allerdings vorbei. In den letzten Jahren hat sich das Wachstum nach Zahlen des Internationalen Währungsfonds IWF gebremst – von bis zu 14 Prozent im Jahr 2007 auf nunmehr 7,4 Prozent. Im Vergleich zu EU-Staaten ist das viel, in China geht es aber schon fast als Krise durch.

Der Grund für die Einbußen ist hausgemacht: Lockte China in den vergangenen Jahrzehnten mit billigen Arbeitskräften ausländische Unternehmen an, schrecken steigende Gehälter, ein zunehmend strengeres Arbeitsrecht, Gewerkschaften und Umweltauflagen diese Unternehmen heute wieder ab. Viele Unternehmen, die China groß gemacht haben, suchen dieser Tage neue Standorte – etwa in den Nachbarländern Vietnam und Kambodscha. Für Chinas exportabhängige Wirtschaft ist das Gift.

Von der Industrie- in die Wissensgesellschaft
Die Folge: 35 Jahre nachdem es zur Industrienation wurde, muss das Land jetzt den nächsten Schritt tun und zur Informationsnation werden. Statt die Umwelt zu verschmutzen, will die Führung in Peking China nun zum globalen Vorbild bei der Nutzung erneuerbarer Energie und umweltfreundlicher Technologie machen. Statt auf den Export setzt man auf die Stärkung der Inlandsnachfrage. Und statt westlichen Unternehmen den chinesischen Markt zu überlassen, schreiben chinesische Unternehmer wie der Internet-Multimilliardär Jack Ma ihre eigenen chinesischen Erfolgsgeschichten.

Und hier schließt sich der Kreis: Kaum irgendwo auf der Welt ist der Kontrast zwischen Reich und Arm, zwischen Neu und Alt, so groß wie in China. Wenn Pekings Straßen alljährlich im Winter im Smog ersticken und gleichzeitig so viele Elektrofahrzeuge wie kaum an einem anderen Ort auf der Welt herumsausen, dann ist das ein Sinnbild für den Zustand des Landes. Eines Landes, das auf seinem rasanten Weg in die Gegenwart dem Fortschritt vieles opfern musste, nun aber auch wie kaum eine andere Region der Erde in eine saubere Zukunft strebt.

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