Eine beispiellose Eskalation an der NATO-Ostflanke hat Europa in höchste Alarmbereitschaft versetzt. In einer gemeinsamen Aktion konnten über Polen mutmaßlich russische Flugobjekte „neutralisiert“ werden. Der Vorfall wird als Angriff gewertet – während der Kreml bereits die nächste Provokation vorbereitet ...
Im beschaulichen polnischen Dorf Wyryki kann man seine direkten Nachbarn wohl an einer Hand abzählen. Hier gibt es einen Automechaniker, jede Menge Felder und ganz in der Nähe die Grenze zu Belarus. Was sich von dort aus näherte, konnte am frühen Mittwochmorgen noch niemand ahnen.
Aus morgendlicher Stille sollte Panik werden. Trümmerteile einer mutmaßlich russischen Drohne stürzten auf ein Wohnhaus und schlugen ein gewaltiges Loch in den Dachstuhl. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt. Die Bewohner hätten sich zu dem Zeitpunkt bereits im Erdgeschoss aufgehalten, zitieren polnische Medien einen Nachbarn. „Hätten sie noch oben geschlafen, wäre das nicht gut ausgegangen.“
Plötzlich war der Krieg ganz nahe
Der Dorfbewohner sei in Panik auf die Straße gelaufen: „Hier ist ein Militärflugzeug geflogen, es hat zweimal gewendet, dann gab es einen Schuss. Und die Drohne ist auf das Dach gefallen. Als es geknallt hat, bin ich vor das Haus gelaufen. Es gab eine riesige Rauchwolke und Schwefelgeruch.“ Eine weitere Nachbarin sei von dem Einschlag aus dem Schlaf gerissen worden. „Ich hörte das Dröhnen von Flugzeugen. (...) Ich sprang auf, meine Beine begannen zu zittern. Ich ging auf den Balkon im ersten Stock und sah die nackten Schornsteine meines Nachbarn.“
Was die Dorfbewohner von Wyryki erlebten, war kein isolierter Vorfall. Diese Nacht schreckte nicht nur sie auf – sondern ganz Europa. Was sich im polnischen Nachthimmel abgespielt hat, darf als Eskalation bewertet werden. Der polnische Premierminister Donald Tusk berichtete seinem Parlament von mindestens 19 Luftraumverletzungen.
Suchtrupps am Boden würden aktuell nach abgestürzten Drohnen und anderen Flugobjekten suchen. Behördenangaben zufolge seien bis zum Mittwochabend Trümmer von mehr als einem Dutzend unbemannter Flugobjekte gefunden worden. Bei den Wracks handelt es sich vorwiegend um sogenannte Gerbera-Drohnen – eine vereinfachte Version der iranischen Shahed, die Russland im großen Stil in der Ukraine einsetzt. Die Gerbera dient häufig als unbewaffneter Täuschkörper, um die Luftabwehr zu überfordern. Sie kann aber auch mit kleineren Sprengköpfen versehen werden.
Der mutmaßliche Angriff hätte Tusk zufolge mehr als sieben Stunden gedauert. Der Premier hob einen besonderen Aspekt hervor: „Was neu ist, im schlimmsten Sinne des Wortes, ist die Richtung, aus der die Drohnen kamen. Dies ist das erste Mal in diesem Krieg, dass sie nicht nur als Irrläufer aus der Ukraine kamen. Erstmals kam ein erheblicher Teil der Drohnen direkt aus Belarus.“
Europa in Alarmbereitschaft
„Erstes Eindringen 23.30 Uhr, letztes 6.30 Uhr, letzter Abschuss 6.45 Uhr“, heißt es dazu in einem internen Memo an die Führung der CDU, der Partei des deutschen Bundeskanzlers Friedrich Merz. Die „Bild“ zitiert daraus: „Es handelt sich um den schärfsten Vorfall seit Kriegsbeginn: Erstmals wurden Drohnen gezielt abgeschossen, der Umfang und die Dauer des Vorfalls sind beispiellos.“
Die Mechanismen der NATO hätten gegriffen: „Polnische F-16, niederländische F-35, AWACS sowie deutsche Patriot-Batterien in Rzeszów waren eingebunden. Mehrere Drohnen wurden neutralisiert.“
Die nächsten Tage werden zeigen, wie gut sich die NATO-Luftabwehr tatsächlich geschlagen hat. Unter Experten herrscht eher Ernüchterung. Tusk zufolge wurden nur „drei oder vier“ der Drohnen abgeschossen. Was eine extrem niedrige Quote darstellen würde. Ein Flugobjekt ist gar über Warschau hinweg geflogen, in die Ortschaft Mniszków – 265 Kilometer ins polnische Kernland hinein.
Für Polen ist es die bisher schwerste Verletzung seines Luftraums seit Beginn des russischen Angriffskrieges 2022. Zuvor gab es bereits mehrere Vorfälle, darunter ein Raketeneinschlag mit zwei Toten. Auch in den vergangenen Wochen verirrten sich mehrmals Drohnen nach Polen, sie mussten allerdings noch nie in dieser Größenordnung abgeschossen werden. Die jetzige, stundenlange und koordinierte Aktion stellt eine neue Qualität der Provokation dar und wird als gezielter Test der NATO-Reaktionsfähigkeit gewertet.
Moskau bestreitet aktiven Angriff
Im Kreml will die Führung davon nichts wissen. Die nächtlichen Angriffe hätten ausschließlich militärisch-industriellen Zielen in den westlichen Regionen der Ukraine gegolten. In einer ungewöhnlichen Geste bot Moskau Warschau jedoch Konsultationen an.
Belarus, Moskaus engster Verbündeter, wurde da schon konkreter. Der belarussische Generalmajor Pavel Muraveiko versuchte in seinen Ausführungen, etwas Abstand zwischen seinem Land und dem mutmaßlichen Angriff auf den polnischen Luftraum zu schaffen.
Seine Luftabwehr habe Drohnen verfolgt, die nach elektronischen Störmaßnahmen „vom Kurs abgekommen“ seien, erklärte er in einem Online-Statement. Man habe die polnische Seite gewarnt und selbst „fehlgeleitete“ Drohnen vom Himmel geholt.
In der NATO und der EU gibt man sich mit Beschwichtigungen aber nicht zufrieden. Der Einsatz hätte gezeigt, dass das Militärbündnis bereit sei, jeden „Zentimeter des NATO-Territoriums“ zu verteidigen, erklärte Bündnischef Mark Rutte breitbeinig. EU-Chefin Ursula von der Leyen kündigte am Mittwoch Milliarden-Investments in die europäische Drohnenindustrie an. Die Mittel sollen aus eingefrorenem russischen Vermögen kommen.
EU-Außenpolitikchefin Kaja Kallas sprach von einem „Wendepunkt“. Putin wolle Europa testen. Auch der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius äußerte sich unmissverständlich: „Es gibt definitiv keinen Grund zu der Annahme, dass dies ein Fehler bei der Kurskorrektur oder Ähnliches war. Diese Drohnen wurden ganz klar absichtlich auf diesen Kurs gebracht.“
Putin zündelt einfach weiter
Der polnische Premier Donald Tusk beantragte Beratungen mit den anderen NATO-Verbündeten nach Artikel 4 des Nordatlantikvertrags. Dabei hätte Polen „Vorschläge für konkrete Unterstützung bei der Luftverteidigung“ erhalten, hieß es kryptisch. Vollmundige Ankündigungen werden Putin wohl weiterhin nicht abschrecken. Jetzt muss der Westen gegenüber dem Kremlchef jene Tugenden beweisen, die er seit der russischen Invasion mehrheitlich vermissen lässt: Einigkeit und Tatkraft!
Man müsse bis dahin mit neuen Provokationen Russlands und dem Ausloten der Grenzen des Zulässigen rechnen, schrieb der unabhängige russische Militäranalyst Jan Matweew auf Telegram. Für Freitag hat der russische Diktator das alljährliche Militärmanöver „Sapad“ (zu Deutsch: „Westen“) von Moskauer und Minsker Truppen angesetzt. Und wo? In Belarus, an der Grenze zu Polen.
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