Drama in Annaberg

Sanitäter: “Es hätte jeden von uns treffen können”

Österreich
21.09.2013 17:01
Annaberg trägt Trauer. Viele Häuser haben die schwarze Fahne gehisst, auf der Straße brennen ewige Lichter. "Wir können es noch immer nicht fassen, dass der Johann tot ist", sagt Michael Hirsch und zeigt auf die Parte, die am Eingang zur Rettungsstation des kleinen Dorfes hängt - "in liebem und dankbarem Gedenken an Johann Dorfwirth, Rotkreuz-Urgestein". Der Wilderer vom Annaberg hat den 70-Jährigen mit einem Kopfschuss hingerichtet, als dieser dem lebensgefährlich verletzten Cobra-Polizisten Roman B. zu Hilfe kommen wollte.

"Dass dieses letzte Tabu: 'Auf einen Rotkreuz-Mitarbeiter schießt man nicht!' gebrochen wurde, macht den Menschen und auch uns Angst", gesteht der Notfallsanitäter, der B. am Dienstag um 1.13 Uhr ins Krankenhaus fuhr. Während dieser 34 Minuten verlor das Rotkreuz-Team, dem zunächst eine Reanimierung gelang, den Kampf um dessen Leben.

"Krone": Wie hat die Horrornacht für Sie begonnen, Herr Hirsch?
Michael Hirsch: Um fünf vor eins ging auf dem Notarzt-Stützpunkt in Lilienfeld unser Pager an: "Schussverletzung eines Polizisten" stand da drauf. Wir wurden nach Kernhof dirigiert, nicht nach Annaberg. Ein Polizeiauto fuhr uns - zwei Sanitäter, eine Ärztin und ich - in der Zwischenzeit mit dem angeschossenen Polizisten auf dem Rücksitz entgegen. Die Übergabe fand um 1.13 Uhr statt.

"Krone": In welchem Zustand war der Cobra-Polizist?
Hirsch: Er hat aus dem Brustbereich stark geblutet. Unterwegs sind uns viele Polizeiautos mit Blaulicht entgegengekommen. Die Fahrt dauerte 30 Minuten bei Regen und starkem Wind.

"Krone": Was sahen Sie im Rückspiegel?
Hirsch: Dass der Patient intubiert und reanimiert worden ist. Das haben meine Kollegen alles im Stehen gemacht, ich musste also vorsichtig fahren, deshalb war ich ganz konzentriert. Als Fahrer hab' ich eine große Verantwortung. Jede Bremswirkung hat Auswirkungen auf die Kollegen und auf die Qualität der Versorgung. Wir haben den Schockraum im Krankenhaus St. Pölten um 1.47 Uhr erreicht. Dort haben die Ärzte schon auf uns gewartet.

"Krone": Wussten Sie zu dem Zeitpunkt bereits, was in Annaberg vor sich ging?
Hirsch: Nur Teile davon. Wir wurden wieder alarmiert und mussten, nachdem wir das Fahrzeug gereinigt hatten, zurück nach Kernhof. Wir haben erfahren, dass ein Wilderer sein Unwesen treibt, dass ein Kollege von uns angeschossen wurde und dass ein Polizeiauto gekidnappt worden sei. Da hab' ich mich schon kurz gefragt, ob das alles wirklich real sein kann. Für mich ist es der Realität noch heute sehr fremd. Niemand hätte sich vorstellen könnnen, dass hier im idyllischen Örtchen Annaberg einmal so etwas passiert.

"Krone": Hatten Sie Angst?
Hirsch: Wir haben natürlich daran gedacht, ob uns nicht vielleicht das "falsche" Polizeiauto entgegenkommen könnte. In Kernhof haben wir unseren Notfallwagen dann so hingestellt, dass wir ein bisschen versteckt waren und trotzdem die Straße sehen konnten.

"Krone": Waren Ihre Gedanken beim Cobra-Polizisten?
Hirsch: Wir haben natürlich gehofft, dass er es schafft. Von seinem Tod haben wir erst am nächsten Vormittag erfahren.

"Krone": Was geht einem da durch den Kopf?
Hirsch: Dass man das Bestmögliche versucht hat, aber man ist leider gescheitert.

"Krone": Als Sie dann das Bild des Polizisten in der Zeitung sahen, wie war das für Sie?
Hirsch: Ich habe höchstes Mitgefühl für die trauernde Familie. Das ist so tragisch, einfach unvorstellbar, dass hier jemand aus dem Hinterhalt, kaltblütig und gemein auf andere geschossen hat.

"Krone": Wie wäre es gewesen, wenn Sie Alois Huber ins Krankenhaus hätten fahren müssen?
Hirsch: Dann wäre es mit Sicherheit genauso abgelaufen. Er wäre aus rechtlicher Sicht ein Patient gewesen wie der Cobra-Beamte.

"Krone": Und von Ihrem Gefühl her?
Hirsch: Gefühle müssen wir wegstecken. Wir arbeiten sehr fokussiert, das bewahrt uns wohl vor Emotionen... Das Problem ist, dass das Leben immer weitergehen muss. Und dass das, was in Annaberg passiert ist, in ein paar Monaten wieder vergessen sein wird. Auch von den Medien.

"Krone": Von Ihnen auch?
Hirsch: Manche Einsätze vergisst man nie... Dieser gehört sicher dazu, obwohl ich als lang gedienter, erfahrener Notfallsanitäter schon viel gesehen habe - von Selbstmorden bis hin zu schrecklichen Verkehrsunfällen. Besonders schlimm ist es, wenn Kinder betroffen sind. Deshalb ist jede Nacht ohne Alarm eine gute Nacht. Dann weiß ich, dass es allen Menschen bei uns im Bezirk gut geht.

"Krone": Mit welchem Gefühl sind Sie am Dienstagmorgen aufgewacht?
Hirsch: Ich hatte noch nicht realisiert, was das für eine Nacht war. Auch im Internet hab' ich zunächst nichts über den Amoklauf gefunden. Nach und nach kamen die ganzen Schlagzeilen, und mir wurde bewusst, dass ich Teil davon gewesen war. Richtig klar wurde mir alles erst am Mittwochabend, weil ich da nach Hause zu meinen Eltern gefahren bin. Meine Mutter hat mich angeschaut und gesagt: "Wie schön, dass du da bist! Das hätte dir auch passieren können, was dem Johann passiert ist."

"Krone": Werden Sie irgendwann noch weinen?
Hirsch: Wahrscheinlich nicht. Vielleicht, wenn ich einmal über alles nachdenke, in einer ruhigen Stunde allein.

"Krone": Worüber?
Hirsch: Dass es jeden von uns hätte treffen können... Es ist wirklich das Letzte, dass hier jemand, der sein Leben lang nur geholfen hat, sterben musste. Da ist eine Grenze überschritten worden, die einfach nicht überschritten werden darf. Diese Ausnahmesituation müssen wir alle erst verdauen.

"Krone": Werden Sie psychologische Hilfe in Anspruch nehmen?
Hirsch: Nein, mein Halt ist meine Familie. Das Zusammensein, das Reden und manchmal auch das Schweigen.

"Krone": Was ist Ihr ganz persönliches Motiv, dass Sie unentgeltlich als Notfallsanitäter arbeiten?
Hirsch: Es klingt vielleicht kitschig, was man auch oft in der Rotkreuz-Werbung hört: Ich mache das wirklich aus Liebe zum Menschen.

Michael Hirsch
Geboren am 27. November 1980 in St. Pölten. Im Zivilberuf ist Michael Hirsch Versicherungsangestellter im Außendienst. Seit acht Jahren ist er Mitglied des Rotkreuz-Notarztwagen-Teams Lilienfeld, das im Klinikum Lilienfeld stationiert ist. Privat lebt der 32-Jährige mit einer Ärztin zusammen (keine Kinder). Er selbst beschreibt sich mit den drei Worten "besonnen, fokussiert, stresserprobt".

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