Türkei rebelliert
Aufstand mit Twitter, Tränen und alten Töpfen
Neslihan Isik ist Mitte 30 und eine erfolgreiche Geschäftsfrau in Istanbul. Die Einrichtungsfirma ihrer Familie gehört zu den alteingesessenen Unternehmen in der Türkei. Seit mehr als einer Woche greift auch sie täglich nach Büroschluss zur Bratpfanne - nicht um zu kochen, sondern um damit auf Istanbuls Straßen Lärm zu schlagen. "Wir handeln in absolut friedlicher Absicht. Immer wieder probieren Fundamentalisten, uns zu provozieren, aber wir antworten mit einem Lächeln", erklärt sie. Denn: "Wir wollen eine Türkei des Miteinanders und keine Lagerbildung zwischen strenggläubigen und liberalen Muslimen."
Es geht um mehr als ein paar alte Bäume
Was als Protest gegen den Bau eines Einkaufszentrums im schönen Gezi-Park am Taksim-Platz begonnen hat, ist zu einer Glaubensfrage geworden. Mittlerweile geht es um mehr als um ein paar alte Bäume, die in Gefahr stehen ausgerissen zu werden. Es geht um die Wurzeln der Republik. Premier Erdogan möchte, so hört man es zumindest von den Menschen im Gezi-Park, die moderne, laizistisch ausgerichtete Türkei Kemal Atatürks in einen islamistischen Staat umwandeln.
Eine Anzahl neuer, von seiner Regierung erlassenen Gesetze unterstützt diese Vermutung. Für Ayse, Ende 20 und Web-Designerin, zeichnet sich diese politische Entwicklung bereits dramatisch ab: "Wir drehen in der Früh das Radio auf und hören, dass wieder mitten in der Nacht ein Gesetz beschlossen wurde, das verbietet, öffentlich zu küssen oder ab 22 Uhr Alkohol auszuschenken. Frauen dürfen nicht mehr entscheiden, ob sie ihr Kind mit einem Kaiserschnitt zur Welt bringen wollen, weil das unnatürlich ist. Ist es die Aufgabe eines Ministerpräsidenten, sich derart in Privatentscheidungen einzumischen?"
"Türkischer Frühling" nur ein Föhnsturm?
Der "Türkische Frühling", wenn er nun tatsächlich einer ist und nicht nur ein Föhnsturm aus dem Internet, wird von Frauen wie Neslihan oder Ayse angetrieben. Sie haben studiert, gearbeitet, die Welt bereist und sich ein selbstbestimmtes Leben aufgebaut. Weder sie noch ihre Mütter haben jemals ein Kopftuch getragen, obwohl sie sich als gläubige Musliminnen verstehen.
Mitte der 80er-Jahre tauchte in den großen Städten der "Türban" auf, der aus kunstvoll arrangierten Tüchern über Turmfrisuren besteht. Seit Erdogan vor mehr als zehn Jahren an die Spitze des Staates getreten ist, tragen ihn immer mehr junge Mädchen und Frauen stolz zu Make-up und Jeans. In TV-Shows wird darüber diskutiert, ob das zarte Geschlecht nicht zu schade wäre, um sich auf Universitäten oder für eine Berufskarriere abzumühen. "Die süße Islamisierung" nennen die Demonstranten diese Entwicklung mit bitterem Unterton.
Dass sich das Land im 21. Jahrhundert grundlegend gewandelt hat, ist unumstritten. Mit guten Wirtschaftszahlen und viel Selbstbewusstsein konnten der Ministerpräsident und seine Partei AKP Stabilität nach innen und außen vermitteln. Bei vielen Revolutionären des Arabischen Frühlings wurde die Türkei als Beispiel für eine islamische Demokratie angepriesen. Noch vor wenigen Tagen mahnte Erdogan Syriens Diktator Assad, "auf die Stimme des Volkes zu hören". Warum unterschätzte er dann selber die Symbolkraft der Bilder, die vom Gezi-Park in die Welt gehen würden?
Aktivisten gut organisiert und vernetzt
Schockiert, aber keineswegs eingeschüchtert seien sie von den Attacken gewesen, erzählt Ayse. Die Aktivisten sind gut organisiert und vernetzt. Innerhalb weniger Tage wurden etwa 100.000 US-Dollar für eine ganzseitige Anzeige in der "New York Times" gesammelt, in der ihre Beweggründe und Ziele dargelegt wurden. Ein Manifest ist in Vorbereitung, um Ziele klar zu definieren.
Indessen grollt "Sultan" Erdogan Facebook und Twitter als Werke des Bösen. Sein Versuch, das Internet an zentralen Punkten wie dem Taksim-Platz in Istanbul zu blocken, erinnert an die Maschinenstürmer des 19. Jahrhunderts. Wo der Protest weitergeht, twittern doch bereits die Spatzen vom Dach.
Kommentare
Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.
Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.
Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.