„Vorbild“ China

Social Credit: Lassen sich Bevölkerungen erziehen?

Digital
23.05.2022 07:00

Es gilt als Schreckensbeispiel für komplette Überwachung und wird als Aushängeschild für Chinas systemische Rivalität zu westlichen Regierungsformen gehandelt: das Social-Credit-System, in dessen Rahmen über jeden Bürger und jedes Unternehmen der Volksrepublik umfangreiche Informationen aus unterschiedlichen (Lebens-)Bereichen gesammelt und daraus öffentlich einsehbare „schwarze Listen“ erstellt werden. Die Folgen dieses gesellschaftlichen Überwachungs-Experiments erforscht Christoph Steinhardt von der Uni Wien.

Wie konsequent werden Kredite zurückgezahlt? Hat sich jemand im Zug grob danebenbenommen? Wie gut halten sich Unternehmen an staatliche Vorgaben? Und werden pflegebedürftige Angehörige gut versorgt? Abhängig von ihrer sozialen Performance werden Menschen im Rahmen von Chinas Social-Credit-System bestraft oder belohnt. Hat jemand etwa Schulden, die aus Sicht der Gerichte zurückgezahlt werden könnten, wird der Zugang zu Luxusgütern verwehrt. Dann kann zum Beispiel kein schickes Hotel mehr gebucht werden, die Kinder können nicht mehr auf privaten Eliteschulen eingeschrieben werden.

Es kommt allerdings auch vor, dass ein Fehlverhalten in einem Lebensbereich zu Sanktionen in einem ganz anderen führt: dass jemand mit schweren Zahlungsrückständen nicht mehr per Flugzeug oder Schnellzug reisen darf. Ziel der Regierung ist es, die Bevölkerung zu besserem Verhalten zu motivieren und längerfristig die Vertrauenswürdigkeit in der Wirtschaft und Gesellschaft zu erhöhen.

Wie das chinesische Social-Credit-System genau funktioniert und wie es von der Bevölkerung aufgenommen wird, untersucht Christoph Steinhardt vom Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien aktuell in einem groß angelegten, vom Europäischen Forschungsrat geförderten Projekt.

Social Engineering
Was als rein finanzielles Bonitätssystem begonnen hat, ist mittlerweile zu einem „moralisierenden“ System geworden. „Grund dafür ist einerseits die in China sehr hohe gesellschaftliche Nachfrage nach Ordnung und konsequenter Bestrafung von Fehlverhalten und andererseits der Druck auf den Staat, dafür Sorge zu tragen“, erklärt Steinhardt.

2014 hat die chinesische Zentralregierung zunächst die regionalen Behörden mit der Umsetzung dieses neuen Systems beauftragt. Seither pickt sie aus den vielen lokalen Variationen die vielversprechendsten Teile heraus und implementiert sie auf Landesebene. Was es den Forschenden nicht einfacher macht: „Wir laufen quasi einem ,Moving Target‘ hinterher“, beschreibt Steinhardt die Mammutaufgabe, die ihm und seinem Team bevorsteht: breit angelegte Umfragen, intensive Feldforschung und umfangreiche Analysen, um die Evolution des Kreditsystems und seine geplanten und auch unvorhergesehenen sozialen, politischen und kulturellen Folgen zu untersuchen.

Die Beobachtung dieses „ambitionierten Social-Engineering-Projekts“, also einer zentral-staatlich gesteuerten Transformation der Gesellschaft, hält er jedenfalls für eine unumstritten wichtige Aufgabe. „Das Social-Credit-System ist mittlerweile ein zentraler Bestandteil des chinesischen Governance-Modells, welches aus Sicht der EU als ‘systemischer Rivale‘ gilt. Allein daraus ergibt sich für uns in Europa eine dringende Notwendigkeit, dieses System besser zu verstehen“, betont Steinhardt, der elf Jahre lang in Hongkong und Singapur forschte und lehrte, bevor er 2018 an die Uni Wien kam.

„Die chinesische Regierung hat hier ein wirklich genuin neues Modell der Regierungsführung entwickelt - und auch wenn es uns aus bestimmten Gründen nicht gefallen mag: Europa befindet sich im systemischen Wettbewerb mit China und sollte sich überlegen, wie man überzeugende Entwürfe entwickeln kann, um die Demokratie als Staatsform im 21. Jahrhundert attraktiv zu halten“, beschreibt der Sozialwissenschafter seine Motivation.

Wer legt fest, was moralisch ist?
Während viele der in China auf nationaler Ebene bereits geltenden Strafmaßnahmen von richterlichen Beschlüssen abhängen oder bei Verstößen gegen eindeutige Regeln wie der Sicherheit im Flugverkehr greifen, gibt es auch willkürlichere Vorgaben. „Ein Beispiel dafür ist ein Regulierungsentwurf für die Sanktionierung von sogenanntem Fehlverhalten im Internet, wie der ‘Verbreitung von Informationen, die gegen Sozialethik, Geschäftsethik, Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit verstoßen“, führt Steinhardt weiter aus.

Große Sehnsucht nach Ordnung
Aber hat das System positive Effekte für die Bevölkerung? Über die gesellschaftlichen Auswirkungen kann Steinhardt bisher nur Thesen aufstellen. „Nach allem, was wir wissen, ist die Bevölkerung bislang sehr positiv gegenüber dem System eingestellt, auch wenn viele wohl nur eine vage Vorstellung davon haben. Viele Menschen in China nehmen Veränderungen im Zuge der sich rasend schnell modernisierenden Gesellschaft als große Verunsicherung wahr. Über die letzten 40 Jahre entstand in China ein schnell wachsender, aber oft schlecht regulierter Wildwest-Kapitalismus. Deshalb gibt es eine große Sehnsucht nach Ordnung.“

Wenn das Kreditsystem tatsächlich dazu beiträgt, Regeln verbindlicher durchzusetzen, dann könnte sich diese positive Wahrnehmung verfestigen. „Außerdem könnten als unsozial angesehene Verhaltensweisen mit der Zeit seltener auftreten und das Vertrauen unbekannten Personen gegenüber steigen“, nennt Steinhardt eine weitere mögliche Entwicklung. „Ob sich das bewahrheitet, wird jedoch auch davon abhängen, als wie vertrauenswürdig oder manipulierbar das System von der Bevölkerung eingeschätzt wird.“

Ob diese chinesische Erziehungsmethode zu den erhofften Verbesserungen führen oder sich andere Wirkungen zeigen, wie zum Beispiel eine stärkere Wahrnehmung von Datenschutz und Privatsphäre in der Bevölkerung, wird Steinhardt erst am Ende seiner Recherche sagen können.

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