Live im Haus der Musik

Jesse Marchant: Poesie muss hart erarbeitet werden

Musik
15.09.2021 06:00

Vor zwei Jahren begeisterte der kanadische Singer/Songwriter Jesse Marchant beim renommierten „Blue Bird Festival“ im Porgy & Bess, jetzt kehrt er offen und ehrlich wie nie ins Wiener Haus der Musik zurück. Mit im Gepäck hat er sein famoses neues Album „Antilope Running“. Wir haben uns beim Wahlamerikaner erkundigt, was ihn zu seiner sanften Kunst inspiriert.

(Bild: kmm)

Mit Vergleichen ist es immer so eine Sache. Meist tut man dem Künstler mit der Gegenüberstellung großer Legenden wenig Gutes. Einerseits lässt sich damit vielleicht der Verkauf des Produktes ankurbeln, andererseits wird aus dem Hörerlager schnell geschimpft, wenn die propagierte Qualität eines Bob Dylan eben doch nicht ganz eingehalten wird. Auch wenn man ja eigentlich schon im Vorfeld weiß, dass das sowieso nie funktionieren kann. Mit derartigen Vorschusslorbeeren ist der gebürtige Kanadier Jesse Marchant schon immer sehr vorsichtig umgegangen und er tat gut daran. Denn seine fein gesponnenen Singer/Songwriter-Preziosen mit folkloristischem Touch und bewusst gesetzten Schlenkern Richtung Jazz müssen sich keiner Konfrontation stellen. Nick Drake, Dylan, John Martyn und wie sie alle heißen mögen sind genauso selbstständige und kundige Musiker wie Marchant selbst, der sich einst als JBM einen Bekanntheitsgrad erarbeitete, sich aber längst erfolgreich von seiner eigenen Vergangenheit emanzipiert hat.

Mitten in den Appalachen
„Ein Album zu kreieren, bedeutet für mich immer, Dinge zu reflektieren und dann damit abzuschließen“, erklärt er uns im Interview, „somit ist jedes einzelne Album persönlich geraten. In den früheren Jahren hat mich das harsche politische Klima in den USA mehr inspiriert als derzeit, aber ich muss Songs allgemein über einen langen Zeitraum hinweg schreiben, weil ich immer das Feuer in mir entzünden muss, damit ich die richtigen Wörter für meine Songs finde.“ Die USA sind schon längst Marchants Heimat. Vor etwa 20 Jahren übersiedelte er von Montreal nach New York, zog dann in den künstlerischen Schmelztiegel Los Angeles und hält sich nun doch wieder meist an der Ostküste auf. Wenn man seine intensiven, akzentuiert beobachteten und klanglich grazilen Kompositionen in Ruhe genießt, dann fühlt man sich unweigerlich in die waldreiche Naturlandschaft der Appalachen eingegliedert. Dort, in den Catskill Mountains, hat er sich u.a. in eine Naturhütte eingemietet, um an brandneuen Songs wie „Dirty Snow“ oder „The Stream Rushes On“ zu werken, die direkt von der dortigen Natur und Wetterlage inspiriert zu sein scheinen.

„Ich bin niemand, der sich jeden Tag konzentriert hinsetzt und einen neuen Song schreibt. Ich habe die ganze Zeit ein Instrument in der Hand, aber wenn es um Texte und Poesie geht, vergehen oft Jahre. Ich kann auch nur schreiben, wenn ich im Alltag etwas erlebt habe oder mir gewisse Erfahrungen Futter dafür geben.“ Marchant hat es nicht eilig, zwischen seinen Veröffentlichungen können schon einmal drei bis vier Jahre vergehen. Dafür wartet sein neuester Streich „Antelope Running“ gleich mit stattlichen 51 Minuten Spielzeit auf. All Killer, no Filler, wenn man so will. Zumindest Freunde des ruhigeren Klangtrabens werden hier bei einem schönen Glas Rotwein vor dem flackernden Kaminfeuer die Entspannung finden, die ihnen der harsche Alltag nur zu gerne raubt. Feine Pianoklänge paaren sich mit leisen Gitarren, dort und da wird es akustisch und wenn Marchant doch einmal etwas ausreitet, dann tut er dies mit sanften Jazz-Anleihen wie in „I Never Knew“, ohne aber seine ursprünglichen Pfade zu verlassen.

Zwei Klangwelten
Dass sich Marchants Songs gerne in atmosphärisch aufgeladenen Serien wie „Grey’s Anatomy“, „Parenthood“ oder „The Blacklist“ wiederfinden, wundert nicht. Gerade ein Track wie der an Springsteens „Nebraska“-Phase erinnernde Titelsong „Antelope Running“ schöpft seine unermessliche Kraft aus der offen zur Schau gestellten Vulnerabilität. Die Synthie-basierten, elektronischen Momente sind auf dem neuen Album auch noch zu hören, stoßen aber nicht mehr ganz so dominant in den Vordergrund wie auf seiner 2018er EP „Illusion Of Love“. „Ich mag warme Synthie-Sounds und genauso auch akustische Musik, die meist etwas authentischer wirkt. Die Fusion aus beiden Welten ist etwas, das auf natürlichem Wege passiert und das ich nicht extra forcieren muss. Am Ende des Tages sagt mir der jeweilige Song, welchen Effekt und welche Entwicklung er benötigt. Ich folge dann ganz meinen Instinkten.“

Über die Jahre hat Marchant gelernt, noch mehr Ehrlichkeit in seine Songs zu legen. Das beste Beispiel dafür ist das mitreißende „An Accident (From 3 Perspectives)“, das in seiner schonungslosen Ehrlichkeit als Highlight des Werkes durchgeht. Darin erinnert sich der Künstler an einen Snowboardunfall als Kind, bei dem er fast verblutet wäre. Einerseits beruft er sich auf seine eigene Erinnerung, zudem nimmt er die Perspektive seines geschockten Bruders ein, der alles live mitbekam und die der zitternden Mutter, die bei ihm blieb bis sich die Rettungskette in Bewegung setzte. Obwohl Marchant mit Familie und Freunden oft über das traumatische Erlebnis sprach, hat er es jahrelang nicht für einen Song angedacht. Nach fünf Alben gelingt ihm nun der nächste Schritt in die völlige Offenheit, die von Musikerin seiner Couleur vom Publikum verlangt wird. „Die Texte sind mir sehr wichtig, aber die Musik steht bei mir über alles. Ich will Musik machen, die Menschen berührt und sie die Welt für einen Moment vergessen lässt. Musik kann provozieren und aufrütteln, gesellschaftliche Standards verschieben. Das ist aber nicht mein Zugang. Ich biete lieber einen Safe Space an.“

Kreativität vor Kommerz
Um seinen Fans diese Komfortzone anzubieten, ist für Marchant Unabhängigkeit das höchste Gut. Ein Majorlabel oder allumfassende Vertragspakete kommen ihm nicht ins Haus. „Ich habe ein tolles Team, das sich um wirtschaftliche Belange kümmert und darüber bin ich sehr froh, aber ich habe die absolute Kontrolle über meine Musik. Ich schreibe Alben so, wie ich sie für richtig halte. Wenn sie sich dabei noch halbwegs gut verkaufen ist das schön, aber ich komponiere keinem Hit entgegen. Ich möchte einfach so lange wie möglich leben, neugierig bleiben und niemals das Gefühl haben, dass ich die wenige Zeit auf diesem Planeten vergeude. Ich mache, was ich liebe und muss dafür kein Opfer bringen.“ Und die ewigen Vergleiche mit den großen Namen? „Mit Springsteen verglichen zu werden ist jedenfalls besser als mit David Hasselhoff“, lacht er, „ärgern würde mich nur, wenn man mich als Kopie darstellen würde. Findet man Ansätze und Ähnlichkeiten bei anderen Musikern, ist das doch eine große Ehre.“

Live in Wien
Am 21. September konzertiert Jesse Marchant im Wiener Haus der Musik. Garantiert eine Menge neuer Songs, aber auch ein paar seiner bekannten Klassiker. Weitere Infos und Tickets erhalten Sie unter www.hausdermusik.com.

Loading...
00:00 / 00:00
play_arrow
close
expand_more
Loading...
replay_10
skip_previous
play_arrow
skip_next
forward_10
00:00
00:00
1.0x Geschwindigkeit
explore
Neue "Stories" entdecken
Beta
Loading
Kommentare

Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.

Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.

Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.



Kostenlose Spiele