"Chaos & Anarchie"

Wiener Symphoniker sitzen in Hölle von Athen fest

Österreich
08.12.2008 19:16
Brennende Autos, zerstörte Geschäfte, Szenen wie im Krieg: Weil ein Polizist einen 15-Jährigen erschossen hat, sind in Athen blutige Straßenschlachten ausgebrochen. "Hier herrschen Chaos und Anarchie", schildert Peter Lehner, Geschäftsführer der Wiener Symphoniker, für die "Krone" aus der Hölle von Athen. Er sitzt mit 100 Musikern fest.

"Die Situation war und ist äußerst bedrohlich. Wir haben ein brennendes Haus gesehen, und auf den Straßen herrscht das reine Chaos", berichtet auch Rainer Küblböck, der 1. Trompeter des weltberühmten Orchesters. Er war nach dem - übrigens viel bejubelten Klavierkonzert von Johannes Brahms im Athener Megaron - mit einigen Kollegen noch essen gegangen. Beim Verlassen des Lokals in der Plaka gerieten die Symphoniker in das Chaos. Küblböck: "Durch das Touristenviertel zogen sich beißender Rauch und Gestank."

"Fluchtartig bestiegen unsere Künstler gegen zwei Uhr Früh ihren Bus und fuhren zurück zum Athens Imperial, dem Hotel, das wir für unsere Konzertreise bezogen haben", schildert Peter Lehner. Da tobten die blutigen Auseinandersetzungen schon stundenlang. Hunderte randalierende Jugendliche zogen durch die wichtigste Athener Einkaufsstraße Ermou.

Straßenschlachten greifen auf andere Städte über
Die Autonomen hinterließen eine Spur der Verwüstung. Sie zerstörten Geschäfte, schossen Fensterscheiben ein. Mehrere Niederlassungen von internationalen Ketten brannten aus. Auch am Sonntag wüteten die Straßenschlachten unvermindert weiter. Allein in Athen beteiligten sich rund 5.000 Demonstranten an einer Protestkundgebung. Nach Rundfunk- und Fernsehberichten wurden im Laufe des Tages vier Polizisten und sechs Demonstranten verletzt. 20 Demonstranten seien festgenommen worden, teilte die Polizei mit.

Inzwischen greifen die Proteste auch auf andere Teile Griechenlands über: Auf die Städte Komotini und Ioannini und sogar die Ferieninsel Kreta. Auch in Thessaloniki kam es zu Auseinandersetzungen. Peter Lehner: "Wir machen uns große Sorgen um unseren Chefdirigenten Fabio Luisi. Er sitzt im King-George-Hotel. Es liegt direkt im Zentrum des kriegsähnlichen Konflikts."

"Die Chaoten haben alles zerstört"
"Es war wie im Krieg", berichtet auch die Besitzerin eines Schuhgeschäfts im Zentrum Athens von den Krawallen in der griechischen Hauptstadt. "Mein Geschäft ist ausgebrannt, ich bin am Ende. Die Chaoten haben alles zerstört", so die Besitzerin in einem Radiointerview vom Sonntag weiter. Man habe sich das ja an den fünf Fingern abzählen können, dass es einmal soweit kommen würde, meinte ein altgedienter Journalist zum Tod des Burschen. "Am späten Samstagabend lief alles schief", sagte Alexis Papahelas, Chef der konservativen Athener Zeitung "Kathimerini". "Und das zwingt uns hier und jetzt, die Antwort auf die Frage zu finden, wie lange wir noch die Gesetzlosigkeit in diesem Stadtteil dulden."

"Kaltblütiger Mord" oder Querschläger?
Ausgelöst hatte die schwersten Ausschreitungen seit mehr als 25 Jahren der Tod eines 15-Jährigen. Der Jugendliche war am späten Samstagabend durch eine Polizeikugel getroffen worden. Ein 37 Jahre alter Polizist, der den tödlichen Schuss abgegeben haben soll, bekräftigte, er habe lediglich drei Warnschüsse abgefeuert. Einer davon habe den Jugendlichen als Querschläger getroffen. Zuvor habe eine Gruppe Autonomer seinen Streifenwagen, in dem er zusammen mit einem Kollegen gesessen habe, mit Steinen und anderen Wurfgeschoßen angegriffen. Die beiden Beamten hätten versucht, die Randalierer festzunehmen, hieß es.

Nach Darstellung von Augenzeugen soll es jedoch nur zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen den Autonomen und der Besatzung des Polizeiwagens gekommen sein. Anschließend habe der Polizist direkt in die Richtung des Burschen geschossen. "Es war kaltblütiger Mord", meinte ein Augenzeuge im Radio.

Innenminister verspricht Aufklärung
Die Behörden leiteten Ermittlungen ein. Die beiden Beamten wurden vorläufig festgenommen. Innenminister Prokopis Pavlopoulos drückte sein tiefes Bedauern aus und wies vorschnelle Schuldzuweisungen zugleich zurück: "Wir warten auf die gerichtsmedizinischen Ergebnisse." Die Verantwortlichen würden zur Rechenschaft gezogen. Pavlopoulos beauftragte drei Staatsanwälte mit der Untersuchung der tödlichen Schüsse. Es handle sich um einen nicht zu rechtfertigenden "Einzelfall".

Ministerpräsident Kostas Karamanlis sprach der Familie des Opfers sein Beileid aus. Ein Rücktrittsangebot des Innenministers lehnte er ab. Die linke Oppositionspartei Pasok verurteilte das Geschehene und sah die Schuldigen bei den "Verantwortlichen in Politik und Polizei".

Der Fall des 15-Jährigen ruft in Griechenland Erinnerungen an den Tod von Michalis Kaltezas wach, der 1985 als 15-Jähriger ebenfalls im Viertel Exarchia während einer Demonstration von einem Polizisten erschossen wurde. Sein Tod war über mehrere Jahre hinweg Anlass für Zusammenstöße zwischen der Polizei und linksextremen Jugendgruppen gewesen.

"Verbotene Stadt" für die Sicherheitskräfte
Schon seit Jahrzehnten verüben Autonome in der griechischen Hauptstadt fast jede Nacht Brandanschläge. Ihre Attacken richten sich gezielt gegen Banken, Vertretungen multinationaler Unternehmen und Polizeistationen, dagegen verschonen sie in der Regel die Geschäfte der "kleinen Leute" wie Bars oder Imbissbuden. Mit ihren Anschlägen "kommentieren" sie das nationale wie internationale politische Geschehen.

Vor allem der Stadtteil Exarchia im Zentrum Athens ist seit Jahren eine Art "verbotene Stadt" für die Sicherheitskräfte. Dort haben die Autonomen, aber auch Drogenbanden das Sagen. Alle schienen sich bisher damit abzufinden. Der "Staat im Staat" Exarchia wirkte wie ein Sicherheitsventil. "Die Autonomen werden dort in Ruhe gelassen, damit sie uns im Rest der Stadt in Ruhe lassen", sagt Grigoris S., ein junger Bereitschaftspolizist.

von Mark Perry, Kronen Zeitung, und krone.at

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